Reiseerlebnisse mit der Bahn

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Entenfang
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Re: Reiseerlebnisse mit der Bahn

Beitrag von Entenfang »

Und das bewegte 2023 die Menschen in Bus und Bahn:

Bus 139 Richtung Messestadt West, München, Do, 23:35

Ich steige an der ersten Tür ein und murmle ein „n’Abend“, doch der Busfahrer beachtet mich gar nicht und blickt starr geradeaus. Vielleicht hat er mich auch nicht gehört. Dann geht die Fahrt los, er hat offensichtlich Mühe, die Spur zu halten. Und dass in der Bajuwarenstraße neuerdings 30 gelten, scheint bei ihm noch nicht angekommen zu sein, denn er fährt viel zu schnell.

ECE Richtung Zürich, Mo, 18:50

As ich den Bahnsteig erreiche, läuft auf dem ZZA die folgende Information durch: +++ Verspätung ca. 45 min +++ Im DB Navigator wird als Grund Verspätung aus vorheriger Fahrt genannt, was nicht so ganz plausibel ist, denn der Zug steht ja da. Allerdings steht auf den Zieldisplays nichts und Zugpersonal kann ich keines entdecken – da liegt die Vermutung nahe, dass auch keines vorhanden ist. Dafür spricht auch, dass diverse Züge wegen eines Notarzteinsatzes massiv verspätet sind. Es gibt selbstverständlich keinerlei Infos, die Servicewüste Deutschland bleibt sich treu. Nach einer Dreiviertelstunde läuft dann tatsächlich Personal über den Bahnsteig. Didong. Didong. „Sehr geehrte Fahrgäste, wir begrüßen Sie im Eurocity nach Zürich. Wir werden München mit einer Verspätung von etwa 45 Minuten verlassen, Grund hierfür ist die verspätete Ankunft des Personals.“
Wir kommen überhaupt nicht durch, müssen ständig vor Signalen halten. Und anstatt Verspätung abzubauen, wird sie stetig mehr. Aus +48 werden bald +60, dann +70 und schließlich +80. Als wir uns langsam Zürich nähern, gehen die Zugbegleiter durch. In meinem Wagen sitzt eine Frau, die nach Lugano wollte. Sie bieten ihr einen Hotelgutschein an, aber sie wirkt mit der Situation überfordert. „Und wann kann ich morgen weiterfahren?“ „Der erste Zug fährt um sechs, jede halbe Stunde. Im Hotel können Sie in der Regel bis zehn bleiben.“ „Ja und wer kümmert sich morgen um meine Arbeit?“ „Das können wir nicht für Sie organisieren. Wir können Ihnen einen Hotelgutschein ausstellen.“ „Und wie komme ich von Lugano nach Hause? Der Transfer und alles war ja organisiert…“ „Was steht denn auf Ihrer Fahrkarte?“ „Lugano.“ „Also haben Sie einen Vertrag nach Lugano abgeschlossen. Wir kümmern uns um diesen Teil. Den privaten Teil müssen Sie selbst regeln, das können wir nicht für Sie übernehmen.“ Es folgt eine lange Pause. „Und der Zug kann nicht warten?“ „Der ist schon abgefahren. Wegen drei Umsteigern kann der nicht eine Stunde warten, dort sitzen ja noch hundert andere Leute drin.“ Wieder folgt eine Pause. „Und mit dem Taxi können wir nicht fahren?“ „Das haben wir anscheinend nicht organisiert bekommen.“ Erneut eine lange Pause. „Wollen Sie nun einen Hotelgutschein oder nicht? Wir haben noch ein paar andere Fahrgäste im Zug, um die wir uns kümmern müssen.“ Die Frau bleibt offenbar unschlüssig und die Schaffner bieten ihr an, später nochmal wiederzukommen.
Das tun sie einige Minuten später. „Ja und wer macht meine Arbeit morgen? Ich muss um fünf anfangen. Und was ist mit Essen? Ich habe nichts mehr zu essen.“ „Sie haben nichts mehr zu essen“, wiederholt der Schaffner leicht genervt, „und sie wollten morgen um fünf anfangen zu arbeiten? Sie wären doch erst um eins in Lugano gewesen.“
Kurz bevor wir Zürich HB erreichen, überreicht der Schaffner der Frau den Hotelgutschein. Sie ist gerade dabei, ihre Kinder zu wecken. „Das Hotel ist informiert, geben Sie einfach den Zettel ab.“ Es braucht mehrere Anläufe, um die Kinder zu wecken. Als der Zug schließlich hält, schiebt die Frau einen zehnjährigen Jungen vor sich zur Tür, die elfjährige Tochter trottet schlaftrunken hinterher. Der mit +86 angekommene EC wird spontan zum letzten IR nach Basel, also kann ich gleich drinbleiben.
Ein älterer Mann steigt ein und beginnt in einer Lautstärke zu telefonieren, dass ich jedes Wort problemlos verstehen kann.
„Hallo? Hallo????“ … „Schwach.“

„Wie war die Party von der Linda?“

„War die Party gut?“

„Dann müssen wir uns mal sehen. Ich bin morgen den ganzen Tag unterwegs.“

„Hallo?“
Eine Pause folgt.
„Ja, grüß dich! Ich bin gerade unterwegs. Ich kann dich nur schwach hören.“

„Ich habe ich schlecht verstanden. Auf was für einer Party?“

„Was gibt´s Neues?“

„Was??? Wie???“ Dabei bleibt unklar, ob er das Gesagte nicht glauben kann oder es akustisch nicht versteht.
„Ich bin morgen unterwegs und dann um Mitternacht in München.“

„Ist der morgen in München?“

„Ja, ich bin schon in Zürich. Ich bin da bis morgen Abend. Ich fahre dann morgen Abend wieder zurück und bin dann um elf in München.“

„Ja gut, dann verbleiben wir so. Servus.“


ICE Richtung Hamburg, Do, 19:14

„Boah, diese Verbindung ist echt der letzte Scheiß“, beschwert sich ein Fahrgast bei der Fahrkartenkontrolle. Der ICE fährt via Heidelberg nach Frankfurt Süd und zudem gibt es anschließend eine Zweistundenlücke – inzwischen fällt mir sowas schwer zu begreifen, bin ich doch auf Hauptstrecken einen Halbstundentakt bis Mitternacht gewohnt… „Ja, da gewöhnen Sie sich besser dran, wir haben sehr viele Baustellen und das geht noch bis 2025. Am besten schauen Sie immer wieder mal, wie wir genau fahren. Das geht noch bis Ende März und dann geht’s im Norden weiter.“ „Na das interessiert mich weniger, da muss ich nicht hin.“ „Und 2024 geht’s erst richtig los, dann ist Mannheim – Frankfurt für sechs Monate gesperrt.“

Wir kommen pünktlich bis Heidelberg. „Verehrte Fahrgäste, die Weiterfahrt verzögert sich noch etwas aufgrund einer polizeilichen Maßnahme.“ „Ich habs dir doch gesagt, dass der Verspätung kriegt“, meint ein junger Mann zu einem anderen, während sie durch den Gang laufen.
„Das ist schlecht. Sechs Minuten Umsteigezeit, das können wir vergessen“, brummt ein älterer Mann vor sich hin. „Immer gibt es irgendwelche Probleme“, antwortet seine Frau.
Doch alles halb so wild, mit +2 geht es weiter.


S1 nach Hochheim, Do, 21:47

„Guten Abend, die Fahrkarten bitte.“ Neben mir haben zwei Mädels um die 20 platzgenommen und sie zeigen ihre vor. Ich suche im DB Navigator nach meiner schönen Fahrkarte Basel – Frankfurt Griesheim via Frankfurt Süd, Ostendstraße, Offenbach Ost und zurück nach Griesheim, doch der Kontrolleur winkt schon ab. „Du kannst da mitfahren.“ Komplette Verwirrung bei mir und den Mädels. „Ah, ihr kennt euch gar nicht?“ Offenbar hat eine der beiden eine Fahrkarte, auf der am Wochenende jemand kostenlos mitfahren kann. „Hmm, aber ist doch nicht Wochenende?“, wundert sich die Fahrkarteninhaberin etwas später. Für mich eigentlich schon…
„Boah, ich fühl mich voll attacked, wenn 20 Leute zusagen und dann nur fünf kommen.“ „Ja, verstehe ich voll, ich meine, klar, es war Fasching, aber dann stimmt halt anders ab oder sagt wenigstens vorher ab.“ „Ja, stell dir vor, wir hätten für 20 Leute einen Tisch reserviert. Dann bekommen wir so einen riesigen Tisch und sitzen dann nur zu fünft da. Das wäre echt mega unangenehm.“


U1 Richtung Südbahnhof, Frankfurt, Fr, 13:35

Ein etwa 10-jähriger Junge kommt im letzten Moment angerannt und blockiert die schließende Tür. „Los, komm schnell“, schreit er Richtung Treppe. Er blockiert die Tür weiter, bis ein kräftiger Mann auftaucht und ihn anbrüllt: „GEHST DU WOHL SOFORT AUS DER TÜR RAUS?!“ Der Junge schreckt zurück, stammelt ein „Es tut mir leid“ und die Tür läuft genau in dem Moment zu, in dem sein Kumpel mit Sandwich in der Hand auftaucht. Beide verabschieden sich mit dem ausgestreckten Mittelfinger, während die Bahn wieder Fahrt aufnimmt.


U7 Richtung Enkheim, Frankfurt, Fr, 14:29

Ein sechs Jahre alter Junge ist mit seiner Mutter unterwegs, Er drückt sich die Nase an der Scheibe zum Führerstand platt. Plötzlich bremst der Fahrer kräftig unter Dauerpfeifen ab. „Der hat fast die alte Oma überfahren“, meint der Junge zu seiner Mutter. „Halb so wild, die wollte wohl von links nach rechts und musste sich dann beeilen, weil die U-Bahn gekommen ist. Deswegen sollte man nicht bei Rot über die Gleise laufen.“

IRE 3 Richtung Friedrichshafen Stadt, Fr, 12:16

„Darf ich mal fragen – hat jemand von Ihnen vor, am Montag mit der Bahn zu fahren?“, erkundigt sich die Zub bei der Fahrkartenkontrolle, „mein Rat an Sie wäre: Verkneifen Sie sich es. Da streiken übrigens die Fahrdienstleiter, nicht die Lokführer. Das sind die, die die Weichen und Signale stellen. Also selbst wenn Zug und Zugpersonal da sind – wenn da vorne rot bleibt, fährt der trotzdem nicht.“


MEX 19 Richtung Heilbronn, Fr, 15:37

Ein junger Mann packt eine Tupperdose aus dem Rucksack, kurz nachdem wir in Tübingen abgefahren sind. Darin sind Maultaschen. Willkommen im Schwabenland!


Tram 21 Richtung Westfriedhof, München, Sa, 12:40

Die Tram hält am Nationaltheater. Plötzlich geht die Tür vom Führerstand auf, hinter der ich gestanden habe. Der Fahrer springt raus und schreit einem vorbeirasenden Auto im schönsten Bayerisch hinterher: „Ja bist noch ganz sauba? Ich mach doch extra den Warnblinker an, wenn da einer aussteigt unds den bei dem Tempo erwischt, dann ist der hii!“ Undefinierte Flüche brummelnd, setzt sich der Fahrer wieder rein und weiter geht’s. Ein paar Fahrgäste unterhalten sich leise. „Ja, mich hat hier mal fast ein Radler erwischt!“ „Gut, dass der was gsagt hat, normalerweise macht ja keiner was.“


IRE Richtung Basel Bad Bf, Fr, 22:14

In Erzingen gibt es dann Verwirrung, ein Mann ist sich nicht sicher, ob der wohl in Dogern hält und jemand im Zug ist der Meinung nein, was aber nicht stimmt, denn in der SVZ halten die IRE häufiger. Der Tf streckt wohl seinen Kopf aus dem Fenster, um zu schauen, warum die Tür nicht zugeht. „Ja, wir halten auch in Dogern!“, ruft er nach draußen.
„Aha, abends ist das wohl anders“, bemerkt der Mann, der erst der Meinung war, dass der Zug nicht in Dogern halten würde. „Ja, und von der Bahn, da hilft nie jemand! Die Lokführer wollen nie Auskunft geben, die wollen nur immer mehr Geld! Ja aber dann fahrt halt auch mal pünktlich!“ „Ach, sagen Sie mir nichts… Ich wollte heute Mittag von Säckingen nach Laufenburg fahren und war zehn Minuten vor der Abfahrt am Bahnsteig. Dann ist der Zug nicht gekommen und dann hieß es auf einmal, der fällt aus. Da fragt man sich ja schon, was machen die eigentlich mit dem ganzen Geld…“ „Ja, mit den ganzen Fahrpreisen…“ „Und mit den Steuergeldern. Naja, haben wohl kein Personal. Als ich zur Schule gegangen bin, bin ich von der 5. bis zur 13. Klasse von Säckingen nach Laufenburg gefahren und ich kann mich nicht erinnern, dass der Zug ein einziges Mal ausgefallen wäre. Ja, vielleicht mal verspätet, aber das war etwas Außergewöhnliches!“


Theater, Basel, Sa, 13:05

Ich bin auf dem Fahrrad unterwegs und halte hinter der Tram in der Haltestelle. In der Lounge ganz hinten sitzen zwei kleine Kinder und strecken mir die Zunge raus, was mir ein Grinsen entlockt. Mit sichtlich viel Spaß schneiden sie weiter Grimassen, während sich die Tram wieder in Bewegung setzt und ich hinterherfahre. Bald muss ich nochmal hinter der Tram halten, erst danach trennen sich unsere Wege.


IC Richtung Stuttgart Hbf, Do, 20:03

Verkehrt heute in geänderter Wagenreihung, verkündet der ZZA, als ich auf den Bahnsteig komme. Normale IC-mod-Wagen, hinten 2. Klasse, vorne 1. Klasse und davor wird nochmal 2. Klasse angezeigt. Das ist gut, denn ich muss in Stuttgart ja vorne umsteigen. Und der erste Blick hat mich nicht getäuscht, der Steuerwagen vorne hat Drehfalttüren und Übersatzfenster. Da der Wagen so weit von den Bahnsteigzugängen entfernt ist, habe ich ihn fast für mich allein. Es ist ein schwülheißer Sommertag und für den Abend gibt es Unwetterwarnungen vor heftigen Gewittern. Die müssen ein Stück östlich unterwegs sein, denn dort ist der Himmel pechschwarz, während über mir noch die Sonne scheint, als der Zug Karlsruhe verlässt und mir der Fahrtwind ins Gesicht weht, ohne wirklich für Abkühlung zu sorgen. Ein Regenbogen erscheint am Himmel. Nach dem Halt in Bruchsal geht es dann auf die SFS, auja, 200 am offenen Fenster im Tunnel, das wird lustig! Tatsächlich wird es bald so laut und die Luftwirbel so unangenehm stark, dass ich das Fenster bis auf einen Spalt schließen muss. Der Druck auf meinen Ohren fühlt sich bei jeder Tunneldurchfahrt so an, als wäre ich 2000 m mit der Seilbahn runter- und anschließend wieder hochgefahren. Dank meiner Pole-Position klappt der Umstieg in Stuttgart trotz der paar Minuten Verspätung reibungslos und ich komme mit +3 am Ziel an. Damit habe ich verdammt großes Glück gehabt – ein Kollege wollte mit dem ICE eine Stunde nach mir aus Basel Richtung Karlsruhe fahren und seine Reise auf den nächsten Tag verschoben. Aufgrund des Unwetters war der Bahnhof komplett gesperrt und der ICE schließlich drei Stunden verspätet.


RB Richtung Freiburg, Fr, 16:13

Ein paar Jungs huschen am Zub vorbei. „Hmm, habt ihr keine Fahrkarte, oder warum lauft ihr weg?“, ruft er ihnen hinterher. Sie bleiben stehen, einer flüstert seinem Kumpel etwas ins Ohr. Dann kommen sie zurück und einer gesteht, dass er sein Abo daheim vergessen hat.
Der Zug ist bereits ein paar Minuten verspätet in Basel gestartet und hält vor der Einfahrt in Freiburg nochmal an. „Sehr geehrte Fahrgäste, unsere Weiterfahrt verzögert sich noch etwas, da unser Gleis durch einen ICE belegt ist – wir stehen also vor einer roten Ampel.“ „Boah, kann der Zug einmal pünktlich sein?“, stöhnt eine Jugendliche.
Mein Fahrrad muss ich die Treppe hochschleppen, denn vor dem Aufzug hat sich erstens eine unendlich lange Schlange gebildet und zweitens ist er ohnehin zu klein für Fahrräder. Ach herrje, heute schon zum zweiten Mal, am Badischen Bahnhof gibt es ja auch zu einigen Bahnsteigen nur Treppen.


S1 Richtung Seebrugg, Fr, 16:43

Bitte Plätze bei Bedarf freigeben. Tja, offenbar sehe ich mit meinem Fahrrad mitten im Gang nicht so aus, als hätte ich Bedarf. Alle tun auffällig beschäftigt, so als würden sie nichts bemerken. Aber ich kann es den Fahrgästen auf den Klappsitzen eigentlich nicht verübeln, denn in der Nähe sind wirklich so gut wie keine Sitzplätze mehr frei. Ich habe keine große Lust, herumzudiskutieren und bleibe einfach mitten im Gang stehen, halte dabei mein Fahrrad fest. Mehrere Studenten sitzen über ihre Tablets und Zettel gebeugt und „lernen“. Eine Studentin schaut mich an, dann rutschen sie irgendwie einen Sitz weiter, was natürlich immer noch keinen Platz für mein Fahrrad schafft. Stattdessen setzt sich noch ein anderer Fahrgast hin, der bisher gestanden hat. „Ach, das war so eine geile Story. Die war sich ja sicher, dass sie nicht bestanden hat. Und plötzlich springt sie im Ruhebereich der Unibibliothek auf und schreit: „Ich habe bestanden!!!!“ Nach ein paar Minuten spricht mich eine der Studentinnen an: „Bis wohin fahren Sie denn?“ Seebrugg. „Seebrugg? Hmm, äh,…“ „Das ist die Endstation“, kommt ihr eine Kommilitonin zu Hilfe. „Ok, wollen Sie sich hinsetzen und das Fahrrad dann halten?“ „Das hat doch einen Ständer – ist halt Rush hour“, mischt sich ein Mann ein, der wohl keine Lust hat, seinen Klappsitz aufzugeben. Ich winke ab – vermutlich werden ohnehin bald einige Fahrgäste aussteigen, sodass dann mehr Plätze frei werden. Also stehe ich eine Viertelstunde, dann leert sich der Zug schnell. Die Studenten verreisen offenbar gemeinsam und haben alle Instrumente dabei. Von einer kleinen, rundlichen Verpackung bis zu einem riesigen Kontrabass ist alles dabei. Ein Kartenset wird ausgepackt. „Spielen wir Skat? Oder Doppelkopf?“ Nach einer kurzen Diskussion einigen sie sich auf Doppelkopf und zwei setzen sich auf den Boden, die restlichen sechs sitzen verteilt auf den Klappsitzen auf beiden Seiten. Die Tablets werden eingepackt und die Karten gemischt. Dann entbrennt erstmal eine ausgiebige Diskussion über die Regeln – auf mich wirkt es so, als würde jeder der Beteiligten andere Regeln kennen. „Boah, das ist ja mit Neuner. Das kann ich gar nicht!“ „Ich kenn das so und so.“ „Hmm, wie war das nochmal mit den Stichen, wenn blablabla…?“ „Boah, ich hab das vor vielleicht fünf Jahren zum letzten Mal gespielt.“ Dazu kommt noch ein Mädel, das offenbar noch keinen blassen Schimmer vom Spiel hat, so wie ich. Es dauert fast eine Viertelstunde, bis man sich offenbar auf eine Regelvariante einigen kann. „Spielst du auch?“ Während sich die meisten in der Gruppe offenbar schon mehr oder weniger gut kennen, verfolgt ein Mädel die Diskussion sehr konzentriert, hält sich aber zurück. Wahrscheinlich kennt sie noch niemanden. „Joa, ich würd‘ schon…“, meint sie und man merkt, dass sie eigentlich total gern mitspielen würde – trotzdem bekommt der Junge neben ihr die Karten in die Hand gedrückt. Da die Gruppe ohnehin viel zu groß ist, müssen mehrere Personen zusammen spielen. Das Mädchen, das noch gar keine Ahnung vom Spiel hat, wird von ihrer Nebensitzerin gut beraten. „Und wenn du das spielst, das ist dann ganz gut…“ Der Spielverlauf ist recht zäh, denn abgesehen von der unerfahrenen Spielerin tauchen noch weitere Uneinigkeiten über die Regeln auf. Es wird über ein Krauderwelsch aus Fehlfarben, Solos und Hochzeiten diskutiert, von dem ich kein Wort verstehe. „Und die beiden, die die Kreuz-Damen haben, spielen dann zusammen.“ Schließlich werden Karten abgelegt und Stiche einkassiert und nach gefühlt einer Minute ist das Spiel schon vorbei. Wir haben inzwischen das Himmelreich passiert und Titisee erreicht, wo der vordere Zugteil nach Donaueschingen abgehängt wird. Weiter geht’s durch die Höhen des Schwarzwalds am Titisee entlang. Plötzlich verkündet einer der Jungs: „Ich glaub, ich muss aufs Klo.“ „Hä was? Jetzt mitten im Spiel? Was ist denn mit dir los? Außerdem sind wir gleich da.“ Dann stellt er fest, dass das WC leider einen Wagen weiter ist und nicht durch ein Wunder direkt neben ihm auftaucht. Und ich habe ja so eine Vermutung, warum er sich nicht mehr so richtig auf das Spiel konzentrieren mag.
Der Zub kommt durch den Wagen und kontrolliert die Fahrkarten. Der Junge, der eben noch plötzlich dringend aufs Klo musste, muss jetzt plötzlich ganz dringend was an seinem Handy machen. Bald stehen sie zu dritt nebeneinander und beraten über seinem Handy. Und bald darauf ist der Schaffner da. Na so eine Überraschung, dass der Student keine gültige Fahrkarte vorweisen kann… „Das tut mir wirklich so leid…“, meint er kleinlaut, während sie weiterhin fieberhaft zu dritt irgendwas am Handy machen. Haben noch kurz zuvor alle fröhlich wild durcheinandergeredet, sind jetzt alle ganz still geworden. Der Zug hält, der Schaffner kommt nochmal. „Und, erfolgreich gewesen?“ „Nein, das lädt irgendwie nicht…“ „Ja, vielleicht, weil der Zug schon abgefahren ist.“ Oder weil es keinen oder nur miserablen Empfang gibt, es ist doch jedes Mal dasselbe, wenn ich nach Deutschland fahre. Mein Regenradar lädt nämlich auch nicht. Der Schaffner bietet schließlich an, eine Fahrkarte zu verkaufen. „Wie zahlt ihr? Kreditkarte, ec-Karte, Google Pay, Apple Pay?“ Sichtlich stolz präsentiert er die ganze Palette an Zahlungsmöglichkeiten und ich frage mich einen Augenblick, ob das nur ein Witz ist.
Nun geht es gemächlich am Schluchsee entlang, endlich gelingt mir beim dritten Versuch die Befahrung dieser Stichstrecke. In Schluchsee steigen fast alle Fahrgäste aus, auch die Studentengruppe mit ihren Instrumenten. In Seebrugg warten unzählige Autos, Hoteltransfers und Taxis auf die Fahrgäste, sodass der Bus gar nicht mehr durchkommt. Nieselregen setzt sein, vor mir liegen 50 km auf dem Fahrrad, ebenso viele Kilometer wie vor der Grinsekatze, die nach wenigen Minuten bereits die Rückfahrt nach Freiburg antritt.


S3 nach Münstertal, So, 17:19

„Endlich mal raus aus der Stadt“, meint eine Frau um die 30 zu ihrem Freund und tätschelt dessen Bein. „Aber du freust dich ja gar nicht, warum eigentlich?“ „Doch, doch“, entgegnet dieser ohne Enthusiasmus. „Lüg nicht.“

IC 3 nach Chur, Do, 18:34

„Oh, wir fahren ja in die Richtung“, meint eine alte Frau zu ihrem Mann erstaunt, nachdem der Zug in Basel abgefahren ist. „Warte mal, ich setze mich rüber. Auf der letzten Fahrt ist mir rückwärtsfahren nicht so gut bekommen. Willst du nicht auch rüberkommen?“ „Nene“, brummt der Mann, „so herum ist sicherer bei einem Crash.“

Tram 11 Richtung Aesch, Basel, So, 15:03

„Hey, what is there in your hand?“, meint eine Frau zu ihrer zweijährigen Tochter. „Don´t pick up anything from the ground, it´s dirty!“ Die Kleine scheint sich aber nicht mal ansatzweise zu ekeln. „Don´t put your hand into your mouth!!!“ Die Frau zieht ein Flasche Desinfektionsmittel heraus und sprüht ihre Hände sowie die ihrer Tochter ein. Ihr Mann murmelt etwas Unverständliches. „Just trying to prevent you from getting sick“, rechtfertigt sich die Frau.
Mein Bahnjahr 2023
Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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gmg
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Re: Reiseerlebnisse mit der Bahn

Beitrag von gmg »

Hatten wir nicht mal ein Thema namens "Das Verhalten der Fahrgäste"? Ich finde es nicht mehr.

Jedenfalls bin ich heute mit der S8 von Neuaubing nach Germering gefahren. Am Bahnsteig waren zwei junge Männer, von denen einer erst einmal im Vorbeigehen einen Aufkleber auf ein Täfelchen klebte. (Ich konnte Täfelchen und Aufkleber nur von hinten sehen.)
Der Typ bekam einen Anruf und die S-Bahn fuhr ein. Auf dem ersten Wagen war ein großer Graffiti-Schriftzug gesprüht. Der Typ las dem am anderen Ende der Leitung den Schriftzug vor, kommentierte die unscharfe Linienführung des Graffito und mutmaßte von wem es stammte.
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