Westdeutsche Zeitung @ 6 Jun 2003 hat geschrieben:
Vier lange Jahre ohne Sühne
Ab heute wird der Prozess zum Absturz der Wuppertaler Schwebebahn am 12. April 1999 teilweise neu aufgerollt.
Wuppertal. Zu Hunderten standen die Wuppertaler an den Haltestellen. Um 13.15 Uhr bog sie mit altvertrautem Quietschen in den Bahnhof ein. Man schrieb den 8. Juni 1999. Applaus, Jubelrufe. Endlich fuhr sie wieder, die gute alte Schwebebahn. Knapp zwei Monate hatte das Wahrzeichen der Stadt still gestanden. Knapp zwei Monate nach dem 12. April 1999. An jenem Morgen stürzte die Schwebebahn ab, riss 50 Passagiere in die Tiefe. Fünf Menschen überlebten den Sturz in die Wupper nicht. Der Mythos vom sichersten Verkehrsmittel der Welt war über Nacht dahin. Die Bilder gingen um die Welt. Sogar die "Times" widmete der Schwebebahn eine Seite.
Schnell war klar, warum es zu dem Jahrhundertunglück kommen konnte: Eine Verkettung unglücklicher Ereignisse und schlecht organisierter Arbeitsabläufe gepaart mit immensem Zeitdruck in der Nacht zuvor, in der am Gerüst der Schwebebahn gebaut wurde. In dieser Chaosnacht wurde eine Montagekralle an der Fahrschiene vergessen. Das festgeschraubte rund 100 Kilogramm schwere Stahlteil genügte, um die Schwebebahn aus der Bahn zu werfen.
Im Februar 2000 hatte die Staatsanwaltschaft die Liste der acht Beschuldigten komplett, denen sie Körperverletzung und fahrlässige Tötung vorwarf. 250 Menschen verfolgten den Prozessauftakt am 23. August 2000. 17 Verhandlungstage später die Urteile: Freispruch für den Betriebsleiter der Schwebebahn. Das mangelnde Sicherheitskonzept ist ihm nicht anzulasten, hieß es. Zwei Mitarbeiter der Wuppertaler Stadtwerke, die die Schwebebahn betreiben, bekamen Bewährungsstrafen, der Bauleiter der mit den Gerüstarbeiten beauftragten Firma Lavis eine Geldstrafe von 14 400 Mark.
Die vier Monteure, die sich in jener Nacht vor dem Absturz als Letzte in unmittelbarer Nähe zur Unglückskralle befunden hatten, wurden freigesprochen. Man könne nicht definitiv sagen, wer von ihnen vergaß, die Kralle abzuschrauben, hieß es in der Urteilsbegründung.
Montag kehren die vier Arbeiter nach Wuppertal zurück. Wieder werden sie im Schwursaal des Landgerichts auf der Anklagebank Platz nehmen. Ihr Fall wird wieder aufgerollt so wollte es der Bundesgerichtshof. Mehr als vier Jahre sind seit dem Unglücksmorgen vergangen. Dreimal haben die Chefs der Stadtwerke und der Oberbürgermeister Kränze an der Haltestelle, die dem Unglücksort am nächsten ist, abgelegt. Dort steht längst auch eine Gedenktafel.
Die Wuppertaler sind natürlich zur Tagesordnung übergegangen. Kein Applaus mehr, wenn die Schwebebahn kommt. Eher Wut über nicht funktionierende Aufzüge an den nagelneuen Bahnhöfen, die die Stadtwerke bauen ließen. Mit den 45 zum Teil schwer verletzten Opfern des Absturzes haben sich die Betreiber der Schwebebahn geeinigt. Millionen wurden gezahlt. Nur zwei Fälle sind noch offen. Der Streit mit der Firma Lavis über den Gesamtschaden von 4,6 Millionen Euro wurde außergerichtlich geklärt.
Das Thema ist so gut wie abgehakt. Nur für die vier Monteure noch nicht. "Einer von Ihnen hat schwere Schuld auf sich geladen", hatte Richter Wilfried Keiluweit das Quartett beschworen. Ein Geständnis blieb aus. Bis zum heutigen Tag. Vier Jahre ohne Sühne und den Spruch "im Zweifel für den Angeklagten" im Nacken. Die Staatsanwaltschaft hat schon vor Monaten durchblicken lassen, dass eine Einstellung der Verfahren wegen Geringfügigkeit nicht in Frage komme.
Manche Menschen wollen nicht mehr warten. Nach jenem ersten Urteil des Landgerichts im Jahr 2000 hatte eine Frau, die beim Absturz ihren Mann verlor, knapp gesagt: "Kein Gericht dieser Welt kann das Geschehene rückgängig machen." Für den neuen Prozess zum Schwebebahnunglück sind drei Verhandlungstage angesetzt.
Von Andreas Spiegelhauer