DumbShitAward @ 20 Mar 2011, 18:06 hat geschrieben:@ guru1
Für die Schweiz ist das System grundsätzlich sicherlich nicht falsch und die SBB macht auch vieles sehr gut, aber es gibt auch einige wesentliche, systembedingte, Nachteile - auf Deutschland übertragen wäre es bisweilen sogar irrsinnig.
Landesweiter ITF vom Postauto bis zum EC ist zwar eine nette Sache, funktioniert auch, wenn die Fahrstrecken nicht so sonderlich lang sind und ein Fahrzeitverlust, den ein ITF beim schnellen oder gar Hochgeschwindigkeitsverkehr, nicht wirklich relevant ist.
Ebenso funktional ist es natürlich auch keine Preisabstufungen bei den Zuggattung zu machen, wenn die längeren Fahrzeiten der niedrigeren Zuggattungen meist nur aufgrund der höheren Haltefrequenz zustande kommen und es keinen wesentlichen Komfortunterschied in den Zügen gibt (allenfalls aufgrund des Alters, immerhin hat man die ECs jetzt auf den Minimalstandard aufgewertet).
Mittelfristig wird die SBB ein Problem bekommen: gerade zwischen den drei Städten Zürich, Bern und Basel existiert sowohl in den Zügen als auch auf den Strecken ein Kapazitätsproblem. Züge werden immer voller, länger und schwerer. Dass das die Lebensdauer der Technik nicht erhöht, ist klar. Man hat es einfach nicht geschafft (Gründe nanntest du ja schon selbst), dort Nägel mit Köpfen zu machen, z.B. Entbündelung von RE/IR und IC/HGV. Dass das verhältnismäßig günstige GA (insbesondere in der 1. Klasse) unter dieser Betrachtung nicht hilft, sei nur eine Randnotiz. Dass man infrastrukturell jetzt keine großen Sprünge machen kann ist klar, die NEAT hat natürlich ersteinmal Priorität, allerdings hätte man da schon lange vor dem Bau der NEAT eingreifen müssen. Basel SBB - Zürich HB im Stoßverkehr ist wenn überhaupt nur noch im ICE halbwegs erträglich (und dementsprechend lassen viele Pendler auch den IC links liegen, nehmen 15 Minuten Wartezeit in Kauf um mit dem ICE fahren zu können).
Womit wir beim nächsten großen Problem wären: der Komfort der SBB, besonders im höherwertigen Verkehr, ist einfach nur indiskutabel. Für eine Stunde mags ja noch langen, wenn man aber drei, vier, fünf Stunden in einem SBB-EC Wagen (trotz Redesign) verbringen darf, ziehe zumindest ich eine standrechtliche Erschießung vor. Die EC-Flotte hat man jetzt endlich einmal modernisiert, erreicht aber trotzdem nur den Standard der Ausstattung, der andernorts Mitte der 90er üblich war.
Gerade wenn man ein Kapazitätsproblem hat, dann ist vis-à-vis Bestuhlung so ziemlich das dämlichste, was man machen kann.
Das sagst du! Was ich interessant finde ist, dass diese Argumente 1960 in der Schweiz auch auftauchten, das man von einem starren Fahrplan redete. Erst als der Spinnerklub die Sache mal durchrechnete, kam raus, dass die Sache machbar wäre. Dazu kam, dass eine Generaldirektor der SBB Gefallen an der Sache fand, und die Leute auch intern förderte. Diese Dissertation untersucht die Gründe warum die Schweizer Bahnen in den letzten 40 Jahren so erfolgreich waren:
http://www.tg.ethz.ch/dokumente/pdf_Prepri.../Preprint20.pdf
Das ist auch eine Grundschulung in Marketing.
Ich behaupte: Wenn man mal seriös die Möglichkeiten und Ausbauschritte abklären würde in Deutschland, dann wäre auch eine Aussage über die Kosten möglich.
Zum Netz:
Auch wir haben in der Schweiz nicht einen ITF, sondern mehrere, die nicht unbedingt kompatibel sind: Die S- Bahn Zürich nimmt im Zweifelsfall keine Rücksicht auf den Fernverkehr. Wartet auch keine Anschlüsse ab. Ist aber in sich selber ein ITF Netz, Aufgrund des Halbstundentaktes, dauert die grösstmögliche Wartezeit 29 Minuten.
Für Deutschland stelle ich mir, verschiedene ITF Gebiete vor, die durch Schnellverkehre verbunden wären.
Ausserdem kenne ich kein Beispiel, wo eine Strecke langsamer geworden ist in der Schweiz. Was mich aber erstaunt har ist, dass die DB die Fahrzeuten im ICE Verkehr teilweise verlängert hat:
http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/08..._memorandum.pdf ,Seite 7
Mittelfristig wird die SBB ein Problem bekommen:
Darum haben wir auch eine langfristige Planung. Wir waren uns bewusst, dass die Einführung des Taktfahrplans 1982 ein erster Schritt war. Die Strategie war, Anfangen und schrittweise optimieren. Erst 1986 war schweizweit eine guter Taktfahrplan vorhanden,. 1990 kam die S- Bahn Zürich, auch nicht perfekt. Im Moment ist aber das 3. Teilergänzungsprogramm S- Bahn Zürich abgeschlossen und das 4. In Planung. 2000 wurde in der Schweiz damit begonnen ein Nachtnetz aufzubauen: Zuerst mit Bussen. Heute existiert in jeder Agglomeration der Schweiz Freitag und Samstag ein Nachtnetz, dass, weil Zuschlagspflichtig, selbsttragend ist. Faktisch haben auch wir, im ländlichen Raum, einen Stundentakt nachts.
Auch Bahn 2000 wurde schrittweise in Betrieb genommen. Bei der NEAT wird das auch der Fall sein.
Auch wir hatten unsere Probleme, mit den Kostensteigerungen. So wurde Bahn 2000 etappiert. Und verschiedene Bauten nicht gebaut. Z.b. der Wiesenbergtunnel und der Ausbau in Richtung Lausanne. Dafür hat man das teilweise kompensiert mit Neigezügen.
Aber der Ansatz: Machen was möglich ist, ist doch gar nicht so blöd: So haben heute rund 90% der Bevölkerung die Vorteile der Ausbauten.
Auch politisch ist das Vorgehen geschickt: Lass die Leute mal die Vorteile eines guten Angebotes erkennen, und dann gehen alle weiteren Kredite durch. Dies ist auch so geschehen: Fast alle Bahnvorlagen erzielten an den Abstimmungen komfortable Mehrheiten.
Dazu kommt in der Schweiz eine strategische, langfristige Planung:
1. Das ZEB ist in der Ausführung:
http://www.bav.admin.ch/zeb/ Dort sind die nächsten Ausbauschritte aufgelistet. Wichtig ist: Auch Beschleunigungen sind drin.
2. Bahn 2030 ist in der Vernehmlassung:
http://www.bav.admin.ch/themen/03044/index...ex.html?lang=de Hier der Link.
3. Bahn 2050. Am Samstag war in der NZZ ein Interview mit dem Direktor des Bundesamtes für Verkehr (BAV). Dabei wurde der Planungshorizont 2050 angesprochen. Es wurde die Aussage gemacht, dass im Dreieck Bern Basel Zürich die Reisezeit auf 45 Min angestrebt wird. Von einer Südlichen Umfahrung von Olten ist auch die Rede. Leider kann ich Dir das Interview aus rechtlichen Gründen hier nicht zugänglich machen.
Eine gute Übersicht über die geplanten Ausbauten bis 2030 hast Du auch hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Schweizer_Eis...senbahnprojekte.
Wie Bahn 2050 aussehen könnte ist hier beschrieben:
http://www.technologieforum.ch/documents/r...-revolution.pdf
Du siehst also, dass die Schweizer langfristig vorausplanen. Leider habe ich, trotz intensiver Suche nichts derartiges in Deutschland gefunden.
Wenn ihr vor 30 jahren die Weichen für ein, den deutschen Verhältnissen angepasstes Netz gestellt hättet und das konsequent und schrittweise, nach den finanziellen Möglichkeiten umgestzt hättet, hättet ihr einen ähnlich komfortablen öffentlichen Verkehr.
.... nehmen 15 Minuten Wartezeit in Kauf um mit dem ICE fahren zu können).
Sofern er pünktlich kommt! Dies ist leider bei der Deutschen Grube(n)bahn nicht so sicher.
Womit wir beim nächsten großen Problem wären: der Komfort der SBB,
Die EC Wagen waren schon zur Bestellung Auslaufmodelle. Es zeichnet sich schon lange ab, dass der Internationale Verkehr auf Triebzüge setzt. Darum sind das mehr Inlandwagen. Dass ihr den Diesel ICE nicht zum laufen gebracht habt, und nun wieder mit EC Wagen nach München gefahren werden muss, ist nicht unsere Schuld.
Zudem, so schlecht können sie nicht sein, sonst hätte sie die DB nicht angekauft.

Übrigens empfinde ich den Komfort der EC Wagen nicht schlecht. Der Komfort ist aber nicht vergleichbar mit den IC 2000 Wagen, oder den ICN Zügen.
Gerade wenn man ein Kapazitätsproblem hat, dann ist vis-à-vis Bestuhlung so ziemlich das dämlichste, was man machen kann.
In der Schweiz sind Autobusbestuhlungswagen nicht akzeptiert! Das kannst du vergessen: Die SBB hatte mal EWIV mit teilweiser Reihenbestuhlung beschafft. Die werden immer gemieden, Das sind die Wagen, wo du auch im vollen Zug noch leere Plätze findet. Zudem bringst du nicht mehr Sitze unter, als Vis à vis.
Faktisch kan man sagen, dass wir, trotz allen Problemen, die ich nicht leugnen will, einen qualitativ so hochstehenden öffentlichen Verkehr haben, dass ich aufs Auto verzichten kann. Für mich ein wichtiges Argument, um in Weinfelden wohnen zu bleiben und ein Haus zu kaufen. Irgendwann werde ich so alt sein, dass ich auf den Oepnv angewiesen bin.
Und zum Schluss noch einer Prophezeihung: Wenn sich die Oelheinis weiterhin so massakrieren, wird sich das auf den Spritpreis auswirken. Du darfst dann dreimal raten, wer dann besser fährt: Der der ein Bahnnetz hat, dass ihn wenigstens teilweise vom Oel unabhängig macht, oder der, der alles auf die Strasse verlagert hat.
Gruss Reini