Balduin @ 16 Jul 2016, 23:21 hat geschrieben:Na Chile 1973, Brasilien 1964, mehrere in Argentinien...
Klar, schon etwas her, die hat keiner von uns irgendwie aktiv erlebt. Aber die vielen Putsche in Lateinamerika dürften halt so ziemlich die am besten dokumentierten sein, und wo man die gesellschaftliche Hintergründe als Westdeutscher am ehesten nachvollziehen und v.a. nachfühlen kann.
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Ergänzend: Die Türkei selber hat in ihrer jüngeren Geschichte Militärputsche erlebt, 1960, 1971 und 1980; zudem gab es 1997 einen "postmodernen Putsch". Allen gingen innenpolitische Krisen voraus (z.B. Proteste, Terror, Rezession). Bei all diesen kam nichts "Besseres" raus im Sinne garantierter Grundrechte und Gewaltenteilung, wirtschaftlicher Fortschritt und gestiegener Lebensstandard. Stattdessen gab es bei den drei "echten" Putschen im Nachgang des herrschenden Kriegsrechts Hinrichtungen und das Pendel zwischen Kemalismus und "türkischem Islam" schlug mal mehr in die eine, mal in die andere Richtung aus. Diese einschneidenden Erfahrungen dürften noch präsent sein im kollektiven Gedächtnis.
Erdogan hat es geschafft, der Macht des Militärs (Stichwort Nationaler Sicherheitsrat) ein bzw. sein politisches Gewicht gegenüberzustellen, sich demokratisch zu legitimieren und das Land zu modernisieren (Infrastruktur, Wirtschaft; wenigstens anfänglich auch Hochhalten des Kemalismus und einhergehend die Westorientierung). In dieser Phase der Stabilität (krasses Gegenbeispiel, zwischen den Putschen 1971 und 1980 gab es 13 Neuwahlen) konnte der wirtschaftliche Fortschritt auch bis "nach unten" durchgereicht und damit das Stadt-Land-Gefälle zurückgenommen werden.
So erklärt sich ein Teil der Ablehnung des Putsches und die schnelle Mobilisierung "vieler", auch wiederum dank sozialer Medien - ist ja schon irgendwo ein machtvolles Bild, wie die der Erdogan aus dem Smartphone heraus in die Kamera schaut und zum Rausgehen ausruft...
Die Angst vor den Folgen einer militärgeführten Regierung für die Parteien erklärt wiederum auch, warum alle parlamentarisch vertretenen Parteien sich gegen diese ausgesprochen haben, selbst die HPD als einer der innenpolitischen Intimfeinde Erdogans, die auch militärisch bekämpft werden.
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In der SZ gibt es einen knappen Überblick über die bisherigen Putsche:
"Sechs jahrzehnte voller Machtkämpfe"
Und beim
"Spiegel" gibt es eine Art
Best of der Verschwörungstheorien, nicht nur im Zusammenhang mit den Ereignissen von Freitag Nacht.