Mühldorfer @ 22 Aug 2017, 10:29 hat geschrieben:Bei ca. 30min Fahrplandichte wartet man durchschnitltich dann 3-mal 15min, was solls.
Überprüfen wir diese Behauptung doch mal an einem abstrahierten Beispiel. Stellen wir uns ein einfaches, sternförmiges Netz vor mit den Endpunkten Frankfurt [Hbf], Stuttgart, Karlsruhe und Köln und einem Knoten Mannheim dazwischen, wo die vier sinnvoll möglichen Relation (S-F, S-K, KA-F und KA-K) miteinander verknüpft werden können. Die Linie A Stuttgart-Köln führe zu den Minuten 00 und 30 ab, die Linie B Karlsruhe-Frankfurt zu den Minuten 10 und 40. Ergibt als durchschnittliche Umsteigezeit bereits 17 Minuten, zusammengesetzt aus einmal zwölf Minuten (von A auf B) und einmal 22 Minuten (B auf A), was schonmal 13 Prozent
über dem angelegten Durchschnittswert liegt. Warum? Fernzüge halten üblicherweise zwei Minuten an einem Fernbahnhof, weil bekanntlich die Fahrgastwechselkapazität durch die zwei vorhandenen Türspuren begrenzt ist.
Gehen wir in unserem Simplexbeispiel einen Schritt weiter und verknüpfen wir die Linien A und B dagegen nach dem Muster der bekannten Korrespondenz, sinken die durchschnittlichem Umsteigezeiten deutlich: A komme zu den Minuten 58 und 28 an und führe zu den Minuten 01 und 31 ab, B komme um 54 und 24 an und führe sogar erst um 05 und 35 ab – so haben wir in der Zugfolge und auch beim Aufenthalt einen deutlichen Puffer, um Abweichungen auszugleichen. Ohne groß zu rechnen tritt die durchschnittliche Umsteigezeit hervor: Zwischen beiden Relationen liegt sie bei sieben Minuten. Das sind fast 60 Prozent
weniger als der prognostizierte Durchschnitt von einer Viertelstunde! Was soll's also?
Kleiner Einschub am Rande, das Korrespondenzmodell hat noch einen weiteren Vorteil: Linientäusche lassen sich im Fahrplan deutlich einfacher abbilden. Wir können auch A2 Stuttgart-Frankfurt und B2 Karlsruhe-Köln im genau gleichen Taktschema anbieten und alle Reiseketten im gleichen Takt zu den gleichen Reisezeiten herstellen.
Bei der reinen Fahrzeitoptimierung geht das im Simplexnetz nicht, eine Relation – hier Karlsruhe-Köln – erfordert bei einem glatten Halbstundentakt immer 20 Minuten Umsteigezeit. Im Korrespondenzmodell liegt der „Zwangsaufenthalt“ bei weniger als zehn Minuten! Und der ließe sich noch um ein Drittel verkürzen durch eine dichtere Zugfolge (drei statt vier Minuten Abstand bei Zu- und Ablauf) und kürzeren Aufenthalt (zwei statt drei Minuten Kernaufenthalt der Linie A).
Davon losgelöst ein bisschen Metakritik: Schon wieder der statistische Taschenspielertrick. Ein Durchschnitt sagt nicht aus über die absolute Verteilung und damit über die Qualität der Einzelfälle aus! Die Streuung wird verschwiegen: Es ist mindestens unredlich bis riesengroßer Eichelkäse, irgendeinen Einzelfall zwischen Garching und Anklam rauszupicken und darauf den statistischen Mittelwert zu extrapolieren. Die Umsteigezeiten können dabei genau so gut drei mal 28 Minuten betragen, was insgesamt 84 Minuten Wartezeit entspricht. Wird dreimal sogar die Mindestübergangszeit unterschritten, ergäben sich sogar dreimal ca. 33 Minuten Aufenthalt... Was soll's? Really?
Metakritik zu abstrakt? Hier ein weiteres Simplexbeispiel: Eine Fußballmannschaft samt Ersatzspieler mag im Durchschnitt 1,85 Meter groß sein und reicht vom „Ascheplatz-Messi“ mit 1,67 bis zum zweiten Keeper mit 2,02 und Schuhgröße 48. Wenn du aus den 25 Mann zufällig drei Leute rauspickst und bei der Stichprobe zwei Torhüter und ein klassischer Vorstopper („Nicht Mensch, nicht Tier, die Nummer vier“) dabei sind, werden die drei im Durchschnitt niemals 1,85 Meter groß sein.
Noch komprimierter steckt die Aussageproblematik des arithmetischen Mittels in einem Statistikerwitz, der schon an der Höhlenwand des Neandertals ausgekratzt wurde: Zwei Männer sitzen in einem Wirtshaus, einer trinkt zwei Maß, einer isst eine Kalbshaxe. Im Durschnitt haben beide ein Bier und eine halbe Haxe verdrückt, in Wirklichkeit aber ist der eine besoffen und der andere hat sich überfressen.
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Iarn @ 22 Aug 2017, 11:58 hat geschrieben:Aus meiner Sicht sind auch wie Mühldorfer es geschrieben hat dichtere Takte wichtiger als ein "schöner" ITF. ITF funktioniert nur bei schönem Wetter und ohne Baustellen.
Es heißt nicht ent oder weder, es heißt nicht ITF in Reinform gegen dichter Takt.
Grobes Missverständnis I, Vertaktung ist nicht gleichbedeutend mit dem Einrichten von ITF-Knoten. Sie kann auch gezielt in einzelnen Richtungen stattfinden und so ausgewählte Reiseketten stärken. Konkretes Beispiel dafür wäre der Übergang von den ICE Frankfurt-Berlin (an xx.57) auf den IC Hannover-Magdeburg(-Leipzig) (ab yy. 10) in Braunschweig: Gänzlich ohne ITF-Ausrichtung wird dort die überregionale Anbindung Magdeburgs in/aus Richtung Südwesten hergestellt, nicht aber die beispielhafte, sinnlose Über-Eck-Verbindung Hannover-Wolfsburg.
Missverständnis 2, die Rolle der Infrastruktur und des Fahrplans ist beim ITF natürlich besonders relevant. Gleichwohl gilt auch, was
Rohrbacher mit der S-Bahn München deutlich bebildert hat: Operiert sie beim dichten Takt am Anschlag ihrer Kapazität, schlagen Abweichungen voll durch. Da geben sich beide Extrempunkte nicht viel. Quintessenz, es braucht sowohl bei der Infra wie auch bei der Fahrplanung angemessenen Puffer, um „übliche“ Störungen aufzufangen.
Die Konsequenz daraus, den ITF komplett abzulehnen, schüttet das sprichwörtliche Kind mit dem Bade aus. Wer in Frankfurt Hbf, Köln Hbf, Hamburg Hbf oder auf der Berliner Stadtbahn einen ITF einrichten will, verkennt die Möglichkeiten des Modells. Wer in Stuttgarts K21 einen ITF-Vollknoten einrichten will und gleichzeitig die Mannheimer Korrespondenz in ihrer Form erhalten will, überreizt ebenso die Möglichkeiten. Lesetipp für Interessierte:
Ingo Decker hat den K21-Entwurf von Wolfgang Hesse analysiert, zwar schlecht geschrieben, aber inhaltlich ziemlich gut.
Speziell im Flächenverkehr ist der ITF dagegen die maßgeschneiderte Option, möglichst viele bis alle relevanten (!) Reiseketten zu bündeln und die Reisezeiten (nochmals, ungleich Fahrzeiten) auf allen Relationen zu drücken. Konkretes Beispiel für eine einfache ITF-Verknüpfung bei optimaler Ausnutzung der vorhandenen Infrastruktur und wirtschaftlichem Einsetzen der Ressourcen in der kleine Knoten Steinach. Von der Hauptlinie Würzburg-Treuchtlingen ausgehend werden zum einen die Stichstrecke nach Rothenburg (ca. 15 Minuten Fahrzeit) und die Querverbindung nach Neustadt/Aisch (ca. 40 Minuten) untereinander verknüpft, so dass stündlich Reiseketten in alle relevanten Richtungen entstehen. Gleichzeitig wird der Fahrzeugeinsatz auf beiden Querstrecken auf dem nötigen Minimum gehalten, was wiederum eine schlanke Infrastruktur erlaubt.
Der Clou an dem Beispiel, weswegen ich es so breit auswälze, ist die weitergehende Verknüpfung der RB Würzburg-Treuchtlingen, die wie gesagt die Anschlüsse der beiden Nebenstrecken aufnimmt: In Ansbach hat sie stündlichen, direkten Anschluss nach Nürnberg – und zwar sowohl mit der S-Bahn als auch mit einem Express. Jede Stunde. Ganz ohne ITF-Verknüpfung. Ohne das die Expressfahrzeit (Stuttgart-)Crailsheim-Nürnberg weiter ausgebremst werden würden. Dieses Modell wiederum erlaubt eine schnelle Reisezeit (!) nach Nürnberg – und dank ITF-artiger Verknüpfung auch über Nürnberg hinaus (z.B. nach Regensburg, Passau und Österreich, nach Oberfranken, nach Bamberg und weiter nördlich, nach München usw.).
Gäbe es diesen Anschluss an den stündlichen Express nicht, müsste mit der S4 nach Nürnberg gefahren werden. Die fährt zwar nur vier Minuten nach dem Express ab und braucht nur sechs Minuten reine Fahrzeit länger, verpasst aber auch relevanten Fernzuganschlüsse und den RE nach Oberfranken. Das Ende vom Lied sind längere Reisezeiten etwa von Rothenburg nach Passau von einer Stunde.
Es gilt einfach der Spruch: Die Fahrzeit ist nur so gut wie der nächste Anschluss. Das kann nicht in der reinen Lehre münden, an jedem Hbf einen Vollknoten einzurichten. Aber in der planbasierten Einrichtung von Anschlüssen auf Basis relevanter Reiseketten und nicht im zufälligen Auswürfeln von Anschlussbeziehungen, die angeblich durchschnittlich 15 Minuten betragen. Selbst beim gespreizten Knoten Steinach, der sich von den Minuten 20 (Ankunft von Rothenburg und Neustadt) bis 35 (entgegengesetzte Abfahrten) erstreckt, betragen die mittleren Umsteigezeiten gerade mal acht Minuten.
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Iarn @ 22 Aug 2017, 13:37 hat geschrieben:Solange die meisten Züge im Stundentakt fahren, bringt es in der ITF Logik nichts einen Fernzug im 30 Minuten Takt fahren zu lassen, man zwängt lieber beide Frequenzen in den gleichen Knoten und das kritisiere ich.
Natürlich bringt das etwas: Je nach Lage der halbstündlichen FV-Trasse zum stündlichen Knoten entstehen in mindestens einer Richtung kurze Übergänge zwischen etwa fünf und zehn, in der anderen zwischen etwa 20 und 25 Minuten. Das sind in vollständig ausgebildeten, großen Knoten üblichem Umsteigezeiten zwischen einzelnen Relationen.
Es steht nirgends festgemeißelt, eine Trasse genau in den Knoten einzubinden und ansonsten den Zug gar nicht fahren zu lassen. Es ist wie alles eine Abwägungssache, abgeleitet von der Frage, welches Ziel erreichtet werden soll. Nochmals, gezielte Verknüpfungen von Relationen müssen nicht zwingend in einem ITF-Korsett eingerichtet werden, Richtungsanschlüsse außerhalb von Knotenzeiten sind genauso gut möglich, siehe die Beispiele Ansbach oder Braunschweig.
Iarn @ 22 Aug 2017, 13:37 hat geschrieben:Und bzgl. Deinem Takt 10 Ausflug bei der S-Bahn: Solange die Räder nicht stehen sondern sich nur verzögern ist ein Takt10 der Real zu einem Takt 7-13 wird angenehmer als wenn ein Takt 20 zu einem Takt 30-10 wird.
Real wird das eher ein permanenter 9-11-Takt von der Stammstrecke abfließend, die alle um einen gewissen Verspätungsbetrag nach hinten verschoben sind, der sich wiederum über Zeit verringern wird. Kann für den Bussanschluss schon mal eng werden...
Womit sich der Bogen zurück zum Fahrplan und zur Infrastruktur schlagen lässt: Beides muss eine "übliche" Verspätungsreduktion erlauben, um die Anschlusswahrscheinlichkeit auf einem festgelegten Niveau zu halten. Egal, ob "ITF" oder "dichte Taktzeiten".
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Trapeztafelfanatiker @ 23 Aug 2017, 11:01 hat geschrieben:Wäre nicht Sinn des ITF eine Fahrzeit von knapp unter 60 Minuten? Könnte man auch schaffen wenn die S-Bahn ihre eigene Infrastruktur hätte.
Übliches Missverständnis in Sachen ITF: 60 Minuten wären bzw. allgemeiner gesagt, die entsprechende Kantenfahrzeit wäre dann relevant, wenn an beiden Ende der betrachteten Strecke (also in Memmingen wie in München Hbf) ein ITF(-artiger Voll- oder Halb-)Knoten ausgebildet wäre. Ist er aber an einem Ende nicht, weswegen eine Kantenfahrzeit irrelevant ist.
Nachdem der Verkehr speziell im RE- und RB-Bereich in den letzten Jahren so stark zugenommen hat, geht es bei vielen großen, überlasteten Bahnhöfen wie etwa auch in Köln, Frankfurt, Hamburg oder der Berliner Stadtbahn mittlerweile primär darum, die verfügbaren freien Slots zu nutzen. Die Fahrzeiten sind also so zu planen, dass so angekommen wird, ohne andere Züge auszubremsen, die Einfahrt für ein Warten auf ein freies Gleis zu blockieren und, indirekte Folgewirkung, es werden gezielt relevante Anschlüsse anzubieten versucht.
Generell, das wird bei gefühlt bei all den hochfliegenden Träumerein für Ausbauten übersehen: Die großen Bahnhöfe samt ihrer Zulaufstrecken (!) arbeiten am Rande ihrer Aufnahmefähigkeit. Jede durch Streckenausbauten erreichte Fahrzeitverkürzung muss daher so austariert sein, dass sie auch in die Knoten mit reingegeben werden kann, sonst verpufft die Wirkung und die aufgewendeten Mittel sind in den Sand gesetzt: Frankfurt-Köln geht bestimmt auch heute schon in irgendwas knapp über 60 Minuten. Bringt aber nichts, wenn im Knoten Frankfurt und auf der Hohenzollernbrücke justement andere Züge fahren, die ihrerseits in Strukturen (Knoten, Anschlüsse, Zugfolgen, eingleisige Abschnitte) eingetaktet sind und der Sprinter sich hinten anstellen muss (muss, um in den anderen Strukturen keine Blutspur an Abweichungen durchzuziehen).