Incredible India

Eure Reportagen und Reiseberichte finden hier ihren Platz, gerne auch Bilder abseits von Gleisen
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Entenfang
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Beitrag von Entenfang »

Langsam nähert sich die Sonne dem Horizont
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Meine Erkältung schlägt plötzlich nochmal richtig zu und ich ruhe mich lieber aus, statt eine Bootstour zu machen. Später bitte ich in der offenen Küche um einen Tee gegen meinen immer schlimmeren Husten. Eine alte Frau sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und schnippelt irgendwelche Kräuter. Sie schöpft ein wenig Wasser aus irgendeiner Tonne, bringt es zum Kochen und schenkt es mir in ein Glas ein. Ich habe größte Schwierigkeiten, das heiße Glas zur Hütte zurückzubringen. Der Tee schmeckt erdig. Hoffentlich macht das mein Magen mit...

Nach dem Abendessen gibt es eine Nachtbootstour. Der Sternenhimmel und das gleichmäßige Platschen des Ruderers strahlen eine fantastische Ruhe aus. Noch schöner wäre es sicher gewesen, wenn nicht ab und zu jemand das Handy oder eine Kopflampe einschalten würde, obwohl der Führer ausdrücklich darum gebeten hat, das nicht zu tun. Und dann noch schön ein Selfie mit Blitz... Der Ruderer protestiert irgendwas und der Führer übersetzt, dass er wegen dem ganzen Licht nichts sehen könne.
Als wir zurückkehren, passieren wir einen kleinen Tempel, an dem einige Leute sitzen, kochen und aus einem Ghettoblaster europäische Partymusik hören.
Mein Bahnjahr 2023
Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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Beitrag von Entenfang »

Tag 17 Nationalpark Sundarban

Auflösung von gestern: Ich habe es schon geahnt - es ist ein Müllberg. Auf dieser Müllkippe werden die Überreste der 15-Millionen-Metropole gesammelt, teilweise sortiert und recycelt, teilweise verbrannt.


Ich gönne mir einfach einen Tag Ruhe. Ich lausche dem Schnattern der Gänse und dem Gackern der Hühner.
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Freche Vögel stürzen sich auf die Essensreste, sobald ein Tisch geräumt wird.
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Es gibt wohl schlimmere Orte, um eine Erkältung auszukurieren...
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Ein alter Mann kehrt in Zeitlupentempo irgendwelche Blätter herum.
Ich bitte nochmal um heißes Wasser für Tee, nehme aber Mineralwasser zur Küche mit. Die alte Frau wäscht Geschirr im Tümpel. Der Tee schmeckt heute nicht erdig. Sie gibt mir noch einige Stücke Ingwer gegen meinen Husten.

Nachmittags fühle ich mich erholt und fit für eine kleine Bootstour.
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Leider bin ich ausschließlich mit Indern auf einem Boot und das bedeutet nicht nur, dass es keine englischen Erläuterungen gibt, sondern vor allem, dass permanent jemand telefoniert.
Aus der Ferne schallt Musik über das Wasser.

Plötzlich bringt der Bootsführer den Kahn am Ufer im Schlick zum Stehen. Der Führer meint, jetzt sollten wir die Schuhe ausziehen und aussteigen. Ich glaube zuerst an einen Scherz, doch als er selbst mit hochgekrempelten Hosen rausspringt und fast bis zu den Knien im Schlick versinkt, traue ich meinen Augen zunächst nicht.
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Nach zwei Minuten springe ich schließlich auch in den Schlick. "Leave your camera here!", meint ein Inder besserwisserisch. Im Gegensatz zu deinem iPhone kann ich die wunderbar und sicher um den Hals hängen, denke ich nur. Zwei Inderinnen jammern zuerst ein wenig herum, lassen sich dann aber doch überzeugen. Die Ausländer dagegen haben vom ersten Moment an einen Heidenspaß an der Aktion.

"Hier, guckt mal, ein Krebs!", ruft der Führer und sammelt einen annähernd handtellergroßen aus dem Schlick auf, "davon gibt es hier ganz viele!" "Oh god, no one wants to know...", jammert eine Inderin, während der Führer offenbar Spaß daran hat, alle Anwesenden ein wenig zu schocken. Dazu sei gesagt, dass die Einheimischen vermutlich alle aus der indischen Mittelschicht kommen und vermutlich nur in klimatisierten und sauberen Räumen sowie im Auto unterwegs sind, während jeder Ausländer hier gewiss einen Hang zum Abenteuer mitbringt.

"Come this side!" ruft mir der Besserwisser zu, als ich zum Boot zurückkehre. Das Boot hat schon bedenkliche Schlagseite in diese Richtung und der Bootsführer deutet hektisch auf die andere Seite. "Come here, come here!", insistiert der Besserwisser. Isjagut. Ich ignoriere ihn und klettere auf der anderen Seite rein.
In gemütlichem Tempo schaukelt die Nussschale zurück zum Dorf. Zwei Inder telefonieren ununterbrochen, darunter der Besserwisser.
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Beitrag von Eisenbahnfreak2000 »

Wow, ich bin etwas spät mit meiner Antwort wie ich sehe, aber bin erst seit neuem in dem Forum.
Richtig guter Reisebericht, ich werde auch mal dort hinfahren!
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Beitrag von Entenfang »

Eisenbahnfreak2000 @ 16 Aug 2020, 15:25 hat geschrieben:Wow, ich bin etwas spät mit meiner Antwort wie ich sehe, aber bin erst seit neuem in dem Forum.
Richtig guter Reisebericht, ich werde auch mal dort hinfahren!
Dann willkommen bei uns und danke für die positive Rückmeldung! Willst du trotz oder wegen meines Reiseberichts nach Indien oder weil du schon immer wolltest? :D


Tag 18 Kalkutta

Ein guter Tag beginnt mit einem üppigen Frühstück.
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Zu den Chapati gibt es Gemüse in einer Soße, gebratenes Gemüse ohne Soße, hinten mutmaßlich Ei und der kleine Block links daneben ist eine Süßigkeit.

Anschließend gibt es einen Abschiedsspaziergang durch die nähere Umgebung.
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Überall herrscht geschäftiges Treiben, es wird gewerkelt und geschafft. Hühner picken, Hähne krähen und Kühe mampfen Stroh. Enten futtern sich durch Wasserpflanzen. Die Felder werden durch in den Tümpeln gesammeltes Regenwasser bewässert. Es ist ein Wunder, dass Mofas einfach vorbeifahren können, ohne zu hupen. Nach zwei Wochen in indischen Großstädten bin ich schon überzeugt, das widerspricht einem Naturgesetz.

Auf dem Hinweg haben wir mit einer Österreicherin gequatscht, die schon mehrere Monate unterwegs ist, hier ihren ersten Stop in Indien hat und noch so lange reisen möchte, bis ihr das Geld ausgeht. Wir sind kein bisschen überrascht, als sie uns erzählt, dass sie nicht zurück nach Kalkutta fahren wird, sondern ihren Aufenthalt im Nationalpark verlängert.

Wir besteigen die Fähre, die dieses Mal mit Plastikstühlen ausgestattet ist. Dann tuckern wir zwei Stunden zurück.
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Die Flut überschwemmt den Mangrovenwald und verbirgt den Schlick.
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Nach dem gemütlichen Tuckern der Fähre ist der Bus ein herber Komfortverlust. Vermutlich hat der Busfahrer Feierabend, sobald er uns nach Kalkutta zurückgebracht hat und dementsprechend ist sein Fahrstil. Dazu ständig dieses sinnlose Gehupe... Auf den wenigen besser ausgebauten Abschnitten mit wenig Verkehr fährt er für meinen Geschmack deutlich zu schnell für die vielen Tiere, die am Straßenrand ihren Tätigkeiten nachgehen. Oft wäre es mir lieber, die indischen Verkehrsteilnehmer würden 10% des Einsatzes ihrer Hupe durch den Einsatz der Bremse ersetzen. Alle gefährlichen Situationen aufzuzählen, die auf der dreistündigen Rückfahrt auftreten, erspare ich mir. Als wir uns Kalkutta nähern, wird allzu wilder Raserei durch die heftigen Bodenwellen ein Ende gesetzt, was natürlich den entgegenkommenden Busfahrer aber nicht davon abhalten kann, beim Überholmanöver direkt auf uns zuzufahren, ehe beide Fahrzeuge im letzten Moment aneinandervorbeisausen.
"Stinkt eigentlich das ganze Land nach Kuhscheiße oder liegt das am Bus?", meint Paul zu mir. Meine Vermutung ist, dass der Gestank von den inzwischen wieder erreichten Ledergerbereien kommt... Aber wer weiß das schon?

Am Stadtrand verlassen alle Inder den Bus und wir werden mit einem amerikanischen Pärchen, das auf Weltreise ist, in einen Jeep gebeten. Wir dürfen auf den quer im Kofferraum angebrachten Bänken platznehmen, na toll. Glücklicherweise dauert die restliche Fahrt nicht mehr lange, denn mir ist eh schon wieder schlecht.

Ein bisschen Abwechslung muss sein und wir suchen ein Pub auf.
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Nun trennen sich unsere Wege, da Paul an die Uni nach Chandigarh zurückkehren muss und ich weiter zu einem Bekannten nach Ahmedabad fahren werde, der mir versprochen hat, Kontakte an seiner Uni herzustellen.
Um die nächste Etappe habe ich besonders lange gerungen. Gibt man in der Fahrplanauskunft Kalkutta - Ahmedabad für den gewünschten Tag ein, erhält man 36h Reisezeit mit einem Direktzug. Die planmäßige Ankunft ist gegen 23:30 Uhr und die Durchschnittsverspätung beträgt über vier Stunden. "36 hours on the train? I don't know how that's going to be..."
Um es kurz zu fassen - es ist keine gute Idee.

Doch Entenfang gibt nicht so schnell auf und experimentiert ein wenig mit Umsteigeverbindungen. Dabei kristallisieren sich zwei brauchbare Möglichkeiten heraus:

Kalkutta (Howrah)....ab 8:20..............HWH CSTM Duronto Exp 12262
Mumbai CSMT...........an 10:30 (+1)

Mumbai Central.........ab 15:40............Tejas Exp 82901
Ahmedabad Jn..........an 21:55

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Kalkutta (Sealdah).....ab 18:30...........NDLS Duronto Exp 12259
New Delhi..................an 11:30

Delhi.........................ab 15:20...........Ashram Exp 12916
Ahmedabad Jn..........an 7:40

Wie unschwer zu erkennen ist, bleibt die Zeit zwischen Start und Ziel nahezu identisch mit dem Direktzug, beinhaltet aber höherwertige Züge wie Duronto und Tejas mit gesicherter Verpflegung sowie deutlich bessere Ankunftszeiten und Pünktlichkeitswerte. Nun stellt sich noch die Frage - 2 Nächte und 1 Tag im Zug oder doch 2 Tage und 1 Nacht?
"I recommend you to take a flight."
Aber es macht dir nichts aus, wenn ich abends um 21:55 Uhr ankomme?
"No, if you want to arrive at that time, that's perfectly fine for me."

Damit ist die Entscheidung schon gefallen. Ich verwerfe alle Überlegungen, doch zu fliegen, und entscheide mich für Variante 1 via Mumbai, sodass ich nicht nur beide Fahrten in Premiumzügen zurücklegen kann, sondern auch noch bei pünktlicher Ankunft Zeit für eine Testfahrt mit der S-Bahn und der Monorail in Mumbai habe.
Anmerkung: In Realität habe ich diese Überlegungen bereits in Jaipur gemacht und auch die Fahrkarten schon 2 Wochen im Voraus beschafft.


Nach einer Stärkung im bereits bekannten Café kehre ich zum Hotel zurück, wo ich meinen Koffer unkompliziert für die letzten 3 Tage deponieren konnte. Zeit für einen Abendspaziergang.
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Beitrag von Entenfang »

Die Nakhoda-Moschee lässt sich inmitten all des Trubels nur schwer ablichten.
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Die Tramstrecke ist bereits stillgelegt.
Ständig bleiben Leute stehen und schauen mir beim Fotografieren zu. Brauchbare Bilder zu bekommen, ist ein sehr harter Kampf. Während der Belichtungszeit bleibt ein Mann direkt vor der Kamera stehen und stellt sich vor, als würde ich ein Interview mit ihm führen. Anschließend fragt er, woher ich komme. "Ah, Germany, good country! I'm an automotive engineer. You have ¦koda, Volkswagen!"

Schließlich laufe ich zurück und finde keinen einzigen Stand mehr, an dem ich Bananen für die morgen anstehende Reise kaufen könnte. Auf dem anders gewählten Hinweg bin ich sicher an fünf Möglichkeiten vorbeigekommen. Muss wohl Murphys Gesetz sein...
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Beitrag von Entenfang »

Tag 19 Kalkutta -> Mumbai

Was sich schon gestern angebahnt hat, zeigt sich am frühen Morgen in aller Deutlichkeit. Endlich sind Erkältung und Husten deutlich besser geworden, dafür protestiert mein Magen. Vielleicht war das im Tümpel gewaschene Geschirr zu viel... Naja, was soll's. Ich habe 26 Stunden Zugfahrt vor mir und damit 26 Stunden gesicherten Zugang zu einem WC.

Ich bestelle mir ein Uber zum Bahnhof. Gleich zwei Hotelangestellte stehen bereit, um den Fahrer heranzuwinken und mir den Koffer in das Auto zu verladen. Das ist mir fast schon unangenehm, aber in Indien gibt es entweder überhaupt keinen oder zu viel Service. Doch man merkt ein Stück weit schon die britische Mentalität, Service wichtiger zu nehmen als in Deutschland. Um halb acht erwacht die Stadt erst langsam, sodass ich nicht im Stau stehe und schon nach weniger als 15 Minuten den Bahnhof erreiche. Das Gewusel ist vergleichsweise überschaubar. Regen setzt ein.
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Hauptsächlich wegen des besseren Essens habe ich mir 1st AC gegönnt und die knapp 2000 km lange Fahrt kostet inklusive fünf Mahlzeiten rund 80 ¤ - für indische Verhältnisse ein kleines Vermögen.
Ich teile mir ein 2er-Abteil mit einem mittelalten Inder, der mich sofort nach dem Betreten des Abteils und einer Begrüßung fragt, ob ich ein Problem mit seinem Haustier hätte. Ein Hase schaut etwas verängstigt aus einer Transportbox. In Indien ist Reisen mit Haustieren unüblich und wird offenbar nicht gerne gesehen - mir ist es angesichts bellender und stinkender Hunde in deutschen Zügen herzlich egal.
Er hat eine Weile für einen großen Konzern in Deutschland gearbeitet, stammt aus Kalkutta und lebt derzeit in Mumbai. Er hat sich für die Zugfahrt entschieden, weil er seinen Hasen vorübergehend für die Dauer eines Auslandaufenthalts bei seinen Schwiegereltern in Kalkutta gelassen hat und der Hase keinen Flug verträgt. Grundsätzlich bevorzugt er Zugreisen gegenüber Fliegen und wäre in Europa nur mit Bus und Bahn gefahren, um mehr zu sehen.

Während Kalkutta langsam zurückbleibt, geht auch schon ein Mitarbeiter durch, um nach besonderen Frühstückswünschen zu fragen.
Mit Toast, Cornflakes und Banane kann man eigentlich nichts falsch machen. Wenig später bringt er zwei Klapptische und Essen. Der Inder benutzt wie ich vor dem Essen ein Hände-Desinfektionsgel. Es ist das einzige Mal während der gesamten Reise, dass ich einen Einheimischen so etwas benutzen sehe.
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Vom Mangosaft lasse ich meinem Magen zuliebe erstmal die Finger.

Wir bekommen auch Zeitungen. Der Inder meint, ich solle doch mal reinschauen, auch wenn bestimmt ein Großteil der Berichte nur den anstehenden Besuch von Trump in Ahmedabad behandeln würde. "He is a clown", meint er über Trump, "just like our prime minister. That's why they get along so well."

Trump wird in The Times of India über den bevorstehenden Besuch wie folgt zitiert: "[...] I hear it's going to be a big event... The biggest event they ever had in India. That's what the prime minister told me. [...]"

Ich bezweifele sehr stark, dass die Veranstaltung auch nur ansatzweise mit dem Khumb Mela-Fest in Allahabad und den Millionen von Besuchern mithalten kann. So viele passen vermutlich nicht mal in das neue Cricketstadion in Ahmedabad, welches von den beiden Landesfürsten unter großem Tamtam eröffnet wird. Aber vielleicht bezieht sich die Aussage auch nur auf das größte Event beim Besuch eines amerikanischen Clowns.

Eine Reinigungskraft schaut kurz vorbei und sprüht ein bisschen Raumduft in den Vorhang. Erinnerungen an meinen ersten Besuch in Indien werden wach.

Ein trüber Tag zieht am Fenster vorbei.
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Reisfelder, überflutete Ebenen, Wasserläufe, Palmen, Eisenbahnwaggons. Neben den Gleisen. Hoppla. Ich erwache aus meinem Eisenbahndelirium, in das ich nach zwei Stunden Fahrzeit geglitten bin. Glücklicherweise liegt die Kamera griffbereit.
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Was ich schon vermutet habe, bestätigt die Recherche im Nachgang - hier liegen die Überreste eines Eisenbahnunfalls aus dem Jahr 2010.

Und weil in Indien einfach so viele Menschen leben, dass immer irgendjemand an den gesuchten Ort kommt, gibt es auf Google Maps an der entsprechenden Stelle auch ein paar Bilder.
https://goo.gl/maps/UDoKjGerKDkJMEdE7

Pünktlich erreichen wir den ersten Zwischenhalt. Ursprünglich hatten Duronto-Expresse überhaupt keine Verkehrshalte, sondern waren reine Punkt-zu-Punkt-Verbindungen zwischen wichtigen Metropolen. Doch sie haben schon immer unterwegs angehalten, wenn auch nur als Betriebshalt.
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Und der Grund dafür ist auf dem Bild zu erkennen - so wird dafür gesorgt, dass es immer frische Verpflegung an Bord gibt. Inzwischen kann man auch zu den Zwischenhalten Fahrkarten kaufen. Nach meiner Beobachtung wird jedoch kaum davon Gebrauch gemacht - vermutlich sind rund 90% der Fahrgäste Durchfahrer von Kalkutta bis Mumbai.
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Jemand versprüht in einem abgestellten Zug irgendwelche Chemikalien. Jemand wischt den Bahnsteig. In diesem Land muss man einfach alles ständig putzen und wischen, damit es nicht innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos versifft.

Zeit fürs Mittagessen. "Richtiges" Geschirr ist der 1st AC-Klasse vorbehalten, alle anderen bekommen nur Aluschachteln.
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Der Inder bittet um etwas Gemüse für den Hasen, doch der verweigert beharrlich jede Nahrungsaufnahme und knabbert lieber am Wasserschälchen im Käfig. "She is feeling unsafe, because the train is moving. But she will get sick if she doesn't eat anything..."

Allmählich wandelt sich die Landschaft. Reisfelder und Palmen werden seltener, dafür gibt es mehr Laubbäume. Könnte fast Deutschland sein...
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Regentropfen laufen die Scheiben hinab.
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Die Region ist relativ dünn besiedelt.

Der Inder nimmt den Hasen aus dem Käfig und dieser beginnt, neugierig das Abteil zu erkunden. Als der Zug die nächste Bremsung durchführt, läuft eine gelbliche Flüssigkeit unter meiner Liege hervor. "Oh, shit...", meint der Inder und saugt die Ausscheidungen mit dem Handtuch auf. Sichtlich glücklich über die neue Freiheit beginnt der Hase sogar, an den Gurkenstücken zu knabbern und setzt dann seine Erkundungstour fort. "Nono! Stop!!!" Die Abteiltür ist nicht ganz geschlossen und der Hase ist ausgebüchst. Glücklicherweise kann der Inder ihn eine halbe Minute später einfangen und zurückbringen.

Nächster Zwischenhalt zum Essen fassen
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Alles wird im Küchenwagen frisch zubereitet. Der Wagen ähnelt einer Kantinenküche, in dem zahlreiche Mitarbeiter in großen Kochtöpfen rühren. In dem Wagen befinden sich auch Liegen für das Personal. Ich versuche mein Glück, doch als ich mit Kamera in der Küche auftauche, winkt einer einladend, während zwei fuchtelnd ablehnen - also lasse ich es lieber.
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Entenfang
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Beitrag von Entenfang »

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Regen begleitet mich in die Nacht. Ich kann problemlos Musikvideos auf Youtube anschauen, denn obwohl wir fernab jeder Zivilisation unterwegs sind, gibt es bis auf wenige Ausnahmen LTE-Empfang.

Als der Tag zu Ende geht und das Personal die wohlverdiente Pause einlegt, gibt es wohl einen Mangel an Liegen. Einer liegt jedenfalls im Einstiegsbereich auf dem Boden und schnarcht leise.
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TramBahnFreak
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Beitrag von TramBahnFreak »

Wow!

Ich hatte schon befürchtet, dass deine Reise Corona zum Opfer gefallen sein könnte – umso besser, dass du sie erleben konntest und wir jetzt teilhaben dürfen. B-)
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Jean
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Beitrag von Jean »

Sehr schöner Bilder und interessanter Bericht. Danke.
Für den ÖPNV Ausbau Gegen Experimente und Träuereien. Eine Trambahn braucht einen eigenen Fahrweg, unabhängig vom MIV!
Fahrradwege auf Kosten des ÖPNV braucht keiner!
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Beitrag von Entenfang »

TramBahnFreak @ 18 Aug 2020, 18:07 hat geschrieben:Ich hatte schon befürchtet, dass deine Reise Corona zum Opfer gefallen sein könnte - umso besser, dass du sie erleben konntest und wir jetzt teilhaben dürfen.  B-)
Ich habe sehr viel Glück gehabt und freue mich, dass der Bilderbogen auf so viel Interesse stößt. :)


Tag 20 Mumbai -> Ahmedabad

Der Hase ist im Gegensatz zu mir an diesem Morgen fit und hoppelt fröhlich durch das Abteil. Mein Durchfall dagegen hat sich nicht gebessert.
Ein paar Berge ziehen vorbei. In der Monsunzeit könnte ich hier viele Wasserfälle bestaunen, meint der Inder zu mir.
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Noch spektakulärer ist die Strecke von Mumbai nach Pune, die einen netten Hingucker vor einem Gefälleabschnitt hat - ein steil ansteigendes Nebengleis, auf das Züge geleitet werden können, wenn die Bremsen versagen.
https://youtu.be/UtluQZ5xrqw?t=15

Die nächsten Stunden vergehen und wir bekommen noch ein Frühstück, welches dem gestrigen ähnelt.

Schließlich tauchen wir in die Vororte von Mumbai ein.
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Es fällt mir sofort auf, dass hier viel mehr Wolkenkratzer und Hochhäuser als in Delhi oder Kalkutta stehen. Völlig überfüllte S-Bahnen bringen Pendler Richtung Zentrum. Immer wieder passieren wir ausgedehnte Slums, die aus dicht beieinanderstehenden Hütten bestehen. So rollen wir durch immer mehr Hochhäuser und die längste Etappe endet mit +31 am Chhatrapati Shivaji Maharaj Terminus. Früher hieß der Bahnhof Victoria Terminus, aber das war wohl zu britisch oder zu einfach und musste deswegen geändert werden.
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Von den hier gezeigten WAP-7-Loks wurden in den letzten 20 Jahren mehr als 1000 Stück gebaut, sodass sie eine der "Klassiker" vor Personenzügen auf elektrifizierten Strecken sind.

Hier entstand auch das Rätselbild, welches ich vor Beginn des Reiseberichts gezeigt hatte.

So bleibt mir noch ausreichend Zeit, um den lokalen ÖPNV ein wenig zu testen. Und während ich durch den großen Bahnhof streife, in dem die riesigen Deckenventilatoren die Hitze nur unzureichend lindern können, ...
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...spricht mich eine Frau an. Ob ich etwas suchen würde? Ungewöhnlich genug - Selfies wollten bisher nur Männer.
Ja, die S-Bahn.
"Which country?"
Germany.
"Aha, bitteschön, dankeschön. When I was in Germany, I didn't want to return to India."
Sie zeigt mir die Fahrkartenautomaten, die ganz stolz als Neuerung bei Indian Railways angepriesen werden. Wohin ich fahren wolle?
Chembur.
"Is there anybody waiting for you in Chembur?!"
Scheint wohl nicht gerade das typische Ziel von Ausländern zu sein und ich fahre dort auch nur hin, um in die Monorail umzusteigen und zurückzufahren.
"Then you could have left your luggage at the cloakroom."
Nee, mein Zug nach Ahmedabad fährt vom Bahnhof Mumbai Central ab. Außerdem hat mir die Bekannte abgeraten, die Gepäckaufbewahrung im Bahnhof zu nutzen.
"You want 1st or 2nd class?"
Hmm. Ich kann den Füllgrad nur schwer einschätzen, fahre aber stadtauswärts und damit gegen die Lastrichtung. Ich wähle trotzdem sicherheitshalber 1st class.
Noch ehe ich es mich versehe, halte ich schon die Fahrkarte in der Hand. Ein Mitarbeiter steht bereit, um den Fahrkartenautomaten zu bedienen und hat mir die Fahrkarte schon rausgelassen. Aha, so funktioniert als ein Fahrkartenautomat in Indien... So ganz scheint man den personenbedienten Verkauf dann doch nicht aufgeben zu wollen. Ich zahle 1,30 ¤.
"Ok, platform 1 or 2. And next time I go to Germany, I'll not return!", meint die Frau entschieden, bevor sie sich verabschiedet und in der Menge verschwindet.

Der Zahn der Zeit nagt am britischen Erbe
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Von den 18 Gleisen des Bahnhofs sind 7 für S-Bahnen reserviert und das ist auch bitter nötig.
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Die 12-Wagen-Züge fahren an die spanischen Bahnsteige ein und nach regem Fahrgastwechsel und wenigen Minuten Kurzwende schon wieder zurück, um Platz für den nächsten Zug zu schaffen. Praktischerweise lässt sich der Fahrgastwechsel auch (wie im Bild) während der Fahrt durchführen, sodass eine kurze Wendezeit ausreichend ist. Beide Führerstände sind und bleiben wie bei der Metro Kalkutta stets besetzt, sodass der Tf nicht 250 m durch das Gewusel zum anderen Ende laufen muss. Außerdem hilft er vermutlich bei der Abfertigung, wobei die Türen ohnehin vom Fahrgast per Hand zu schließen sind, was natürlich im Anbetracht der Hitze unterbleibt. Vielleicht sollte man über dieses Konzept als Übergangslösung auch bei der S-Bahn München nachdenken, um die Zugfolgezeit in der Stammstrecke reduzieren zu können?
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Irgendwie kommt mir hier alles wage bekannt vor. So, als wäre ich schon mal dagewesen. Aber das kann eigentlich nicht sein, denn ich war noch nie in Mumbai. Die nachträgliche Recherche bestätigt schließlich meine Vermutung - diverse Filmszenen in Slumdog Millionaire wurden in diesem Bahnhof gedreht.
https://www.youtube.com/watch?v=xwwAVRyNmgQ

Geschäftiges Treiben - es gibt abgesehen von den normalen 2nd class-Wagen auch Wagenteile für Frauen, für Behinderte und Krebskranke sowie 1st class, zwischen denen es aber nicht die geringsten Komfortunterschiede gibt. Der einzige Faktor ist wohl der Füllungsgrad.
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Beitrag von Entenfang »

Ich laufe bis zum Bahnsteigende, um die Einfahrt meines Zuges zu dokumentieren.
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Servus!
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In meinem 1st class-Abteil bin ich erstmal ganz allein.
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Hinter dem nächsten Gitter befindet sich 1st class nur für Frauen. Die Ventilatoren können durch Schalter selbstständig ein- oder ausgeschaltet werden. Angesichts der ganzen vergitterten Fenster habe ich schon immer gewisse Sicherheitsbedenken – Notausstiege werden in Indien offenbar als nicht so wichtig erachtet. Der gesamte Zug ist auf maximale Kapazität ausgelegt, wie an den zahlreichen Haltegriffen erkennbar ist.
Inzwischen gibt es auch einige klimatisierte Züge mit automatischen Türen, gesichtet habe ich jedoch keine.
https://timesofindia.indiatimes.com/travel/.../as63232059.cms

Alle Züge fahren pünktlich zum Zeigerschlag wie auf den Displays angegeben ab. Manchmal rennt noch jemand hinterher und springt in den abfahrenden Zug rein.

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Ich finde die Fahrt bei offener Tür sehr gewöhnungsbedürftig und habe ständig Angst, rauszufallen. Wir fahren zwar vermutlich nie schneller als 60, aber auf den Weichen ruckelt es teilweise heftig. Angeblich sterben jeden Tag drei Menschen in Indien, weil sie aus Zügen rausfallen.

Überall schießen Wolkenkratzer in die Höhe.
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Erst später füllt sich der Zug etwas, doch Überfüllung erlebe ich auf der gut halbstündigen Fahrt glücklicherweise nicht. Weder die Ventilatoren noch die offenen Türen können die Hitze nennenswert erträglicher machen.

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Ein für indische Verhältnisse sehr guter Fußweg führt mich zur nahegelegenen Monorail-Station, eine monströse Konstruktion ähnlich zu Jaipur.
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Die höhenfreie Gestaltung von Verkehrswegen soll für einen flüssigeren Verkehr sorgen - Kernstück sind dabei Straßenüberführungen (Flyover), welche die darunterliegende Kreuzung umfahren bzw. überfahren.
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Die Monorail fährt im attraktiven Takt 30 (!) und ich muss fast eine halbe Stunde warten, obwohl die Abfahrt laut Fahrplan eigentlich in einer Viertelstunde sein sollte.
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Für ein innerstädtisches Verkehrsmittel ist die Taktdichte ein sehr schlechter Witz - und das, nachdem der zweite Abschnitt der einzigen Monoraillinie eines einst geplanten umfangreichen Netzes erst 2019 nach jahrelanger Verspätung in Betrieb gegangen ist. Mumbai setzt jetzt doch auf den Aufbau einer Metro.
Die Mittagshitze macht mir zu schaffen. Endlich komme ich wieder in den Genuss eines klimatisierten Raumes...
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Beitrag von Entenfang »

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Es sind gerade einmal die wenigen Sitzplätze belegt und auch während der rund 45-minütigen Fahrzeit steigt kaum jemand zu oder aus.
Besonders ruhig ist die Fahrt auch nicht und erinnert in den Kurven mit starker Überhöhung an eine Achterbahn. Zumindest der Ausblick kann sich sehen lassen.
Slums neben Hochhäusern sind ein häufiger Anblick
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Es entstehen geradezu monströse Wohngebäude - dass es sich beim folgenden, 30-stöckigen Hochhauspaar um eine Siedlung für den Mittelstand handelt, ist unzweifelhaft daran zu erkennen, dass die untersten 5 Etagen nur als Parkhaus dienen (!). Da muss man sich über den Verkehr in den Großstädten nicht mehr wundern.
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Je näher ich zum Stadtzentrum zurückkehre, desto seltener werden die Hütten. Wolkenkratzer dominieren das Bild. Das derzeitige Ende der Monorail liegt etwas unmotiviert im Nichts und bietet keinerlei sinnvolle Weiterreisemöglichkeiten. Also bestelle ich ein Uber. Aufgrund des endlosen Staus dauert es fast 10 Minuten, bis der Fahrer sich ein paar Hundert Meter zu mir durchgekämpft hat und weitere 20 Minuten für die zwei Kilometer bis in Bahnhofsnähe, wo ich mir noch eine Pizza gönne. Ich laufe ein kurzes Stück zum Bahnhof und bin danach schon reichlich erschöpft, denn ich musste den Koffer nicht nur eine Brücke hochziehen, sondern auch noch über diverse Löcher im Pflaster heben und dazu auch noch diese Hitze...

Ich bin früh dran und mir bleibt noch Zeit zum Umschauen.
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Indische Bahnhofshallen wirken stets ein wenig düster. Verglaste Dächer, wie man sie aus Deutschland gewohnt ist, hätten aber den entscheidenden Nachteil, die Sonne nicht abzuhalten.

Bahnsteigzugang mit lauter undefinierbaren Paketen
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Während ich kurz die Dostos bestaune, fragen mich schon zwei Personen, ob ich irgendwas suchen würde.
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Interessant finde ich, dass die Fenster im oberen Stockwerk nicht vergittert sind. Eine Erklärung dafür habe ich aber nicht gefunden.

Ich suche den Bahnsteig für den Tejas Express. Einige Züge haben einen eigenen Generatorwagen - ich konnte aber nicht in Erfahrung bringen, womit ihre Einreihung oder Nicht-Einreihung zusammenhängt.
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Dass der Zug auf die zahlungskräftige Kundschaft ausgelegt ist, kann man sofort erkennen. Nach der Premiere des Tejas-Express von Mumbai nach Karmali im Jahr 2017 ist die Verbindung Mumbai <> Ahmedabad der vierte Tejas-Express. Aus den zahlreichen Selfies der Einheimischen schließe ich, dass der Zug ungewohnt ist. Und tatsächlich - er ist brandneu keine zwei Monate vor meiner Reise eingeführt worden.
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Die Wagen sind mit automatischen Türen, Vakuum-WCs, WLAN sowie elektrischer Beschattung zwischen den Fensterscheiben ausgestattet. Im Executive chair car gibt es sogar Bildschirme mit Entertainment-Programm.
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Wie lange so viel Technik wohl funktionieren wird?

Der Zug hat grundsätzlich westlichen Standard, nur die Zwischentüren müssen von Hand aufgeschoben werden und sind ziemlich schwergängig. Die Wagen sind laut Anschrieb für 200 km/h ausgelegt, obwohl diese Geschwindigkeit bisher noch nirgendwo gefahren werden kann.
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Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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Beitrag von Entenfang »

Mumbai lässt der Zug ziemlich leer zurück, doch schon nach einer halben Stunde beim Halt an einem Vorortbahnhof wird er komplett voll. Und kaum ist der Sitzplatz vor mir belegt, wird der Sonnenschutz auch schon heruntergefahren und versperrt mir den Blick nach draußen. Erst zum Sonnenuntergang sehe ich wieder etwas.
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Snacks werden serviert, später Abendessen. Sieht lecker aus, hoffentlich protestiert mein Magen nicht wieder. Seit ich vor der Ankunft in Mumbai eine Tablette genommen habe, hat sich die Lage beruhigt.
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Im Großraumwagen herrscht ein hoher Lärmpegel - in Indien ein ganz klarer Nachteil gegenüber Abteilen. Kinder schreien, mehrere Leute telefonieren, einer schaut Videos auf voller Lautstärke und die anderen plappern lautstark.

Den letzten Zwischenhalt erreichen wir wie fast alle ein paar Minuten zu früh, sodass ich zum Fotografieren kurz aussteige.
Die goldene Lackierung soll die hohe Qualität des Tejas-Express verdeutlichen.
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Aus dem Führerstand händigt jemand einem Jungen Essenspakete aus. Er setzt sich hin und isst genüsslich.
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Jemand winkt aus einer Waggontür und bietet vermutlich noch Brot dazu an. Als wir wenige Minuten später abfahren, trägt der Junge einen ganzen Karton voll Essen den Bahnsteig entlang. Es gibt also doch Menschen, die ein Herz haben und das übrige Essen verschenken, ehe am Endbahnhof alles weggeschmissen wird. Ich hatte schon daran gezweifelt...

Mit -7 geht die Reiseetappe an einem heißen Abend zu Ende.
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Noch ein kurzer Blick in die Lok...
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...ehe ich mich mit einem Bekannten treffe, dessen Fahrer uns fast eine Stunde einmal quer durch die Stadt bis zum äußersten Stadtrand bringt. Der Fahrer muss gelotst werden und mein Bekannter kommentiert nur, dass der Fahrer keine Ahnung habe, wohin er fahren müsse. Er würde nie jemanden vom Bahnhof abholen und selbst nie mit dem Zug fahren - das wäre ihm viel zu chaotisch. Eins ist mir aber trotz meiner Erschöpfung nicht entgangen - die nächsten zwei Wochen werde ich direkt neben einer Eisenbahnstrecke wohnen.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 21 Ahmedabad

Ich gönne mir ausreichend Schlaf, bevor ich zusammen mit dem Bekannten zu seiner Arbeitsstelle an einer privaten Uni am Stadtrand fahre.
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Mehrere Studenten treiben sich um den Aufzug herum, an dem drei Zettel "Staff only" kleben. In Indien sind einfach alle entsetzlich lauffaul und warten lieber ewig auf den Aufzug, anstatt zwei oder drei Stockwerke zu Fuß zu gehen.
600 ¤ Studiengebühren pro Jahr sind ein üblicher Preis für Privatunis in Indien, daher steht Studieren in Deutschland auf der Beliebtheitsskala in Indien inzwischen recht weit oben.

Ein Kollege führt mich durch die Uni und die Labore, z.B. für Werkstofftests und Erdbebensicherheit. Leider ist die Eisenbahn hier nicht vertreten, weil es dafür eine eigene Fachabteilung rund 100 km entfernt gibt. Der Campus liegt weit außerhalb und die meisten Studenten kommen mit dem eigenen Mofa oder seltener mit dem Auto, aber es werden auch Busse angeboten. Ich verquatsche mich den ganzen Tag mit den Kollegen. Einer kennt sich sehr gut mit Eisenbahn aus und erzählt mir später, dass er während seines Studiums in Bangalore regelmäßig einfach den nächsten Bus irgendwohin genommen habe und nach einigen Jahren sämtliche Buslinien der Stadt auswendig konnte.

Auch Mittagessen wird in der offenen Kantine angeboten.
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Es gibt Palak Paneer (indischer Käse mit Spinat), Kichererbsen (das dunklere Braun), Dal (das hellere Braun) und natürlich Reis und Chapati.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 22 Ahmedabad

Heute Vormittag soll irgendein studentischer Wettbewerb an einer anderen Uni stattfinden. Der Fahrer bringt uns hin. Wir schütteln ein paar Hände und mein Bekannter spricht seinen Studenten ein paar lobende Worte und Mut zu. Wir nehmen ein paar Minuten in einem großen Saal Platz und plötzlich meint er zu mir, wir würden jetzt ins Büro zurückfahren. Ich bin reichlich verwirrt - aber der Wettbewerb hat doch noch gar nicht angefangen?! Das stimme zwar, aber das würde eh noch eine Weile dauern und wenn es mal angefangen habe, könne er ja nicht plötzlich abhauen und er habe nachher noch einen wichtigen Termin...

Abends machen wir noch gemeinsam eine Testfahrt mit dem BRT-System, für das Ahmedabad bekannt ist und das in Indien als vorbildlich gilt. Wohlgemerkt machen wir wohl beide eine Testfahrt, denn vermutlich hat er das System angesichts der Verfügbarkeit eines Wagens mit Fahrer seit Jahren nicht genutzt.
Einen recht gut verständlichen Netzplan gibt es auf Wikipedia.
https://en.wikipedia.org/wiki/Ahmedabad_Bus...1_june_2018.jpg
Die Netzlänge beträgt rund 125 km, davon 90 km auf eigener Trasse. Der 1. Abschnitt wurde 2009 eröffnet und das Netz seitdem stetig erweitert. Bisher handelt es sich um das einzige verhältnismäßig leistungsfähige ÖV der 7-Mio.-Stadt.

Laut der Webseite verkehren die meisten Linien alle 10 bis 12 Minuten.
http://www.ahmedabadbrts.org/

Wie viel die beabsichtigte Fahrt kostet, ist am aushängenden Tarifplan ersichtlich und orientiert sich an der Entfernung.
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Die Preise bewegen sich zwischen 5 und 30 Cent.

Hier nahe der Endstation ist abends kaum etwas los.
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Alle Haltestellen der Busspuren sind Hochbahnsteige mit offenen Seiten. Üblicherweise haben diese Zugänge von beiden Enden - jedoch waren nur in der Anfangszeit beide Zugänge besetzt. Daher sind die Drehkreuze inzwischen obsolet, denn zum Fahrkartenkauf muss man eh erstmal über den Bahnsteig zum anderen Ende laufen. Auf den Kassenbon-Fahrscheinen ist ein QR-Code abgebildet, den man eigentlich auf einen Scanner halten muss und wodurch das Drehkreuz freigegeben wird. Man muss sich jedoch viel Mühe geben, um die richtige Position zu treffen und so laufen die meisten einfach durch das immer geöffnete Tor für Behinderte.

Die Bahnsteigtüren öffnen automatisch, sobald der Bus eingefahren ist. Die Fahrzeuge haben nur eine breite Doppeltür in Fahrzeugmitte.
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Zwar werden inzwischen nur noch klimatisierte Fahrzeuge eingesetzt, doch dafür wird man auf ungünstigen Plätzen direkt mit einem Schwall eiskalter Luft beglückt.

Im weiteren Verlauf wird der Bus bald formschlüssig voll und wir haben größte Mühe, an einem Unterwegshalt zu den Türen in der Mitte vorzudringen.

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Wenn sie denn funktionieren, zeigen Bildschirme die nächsten Abfahrten an. Dabei wechseln sie zwischen Englisch, Hindi und Gujarati. Die Fahrzeuge sind derart schwach motorisiert, dass sie nur mit Mühe eine Steigung hochkommen und schaffen dabei keine 30 km/h mehr.

Eine Kuh steht mitten auf der Straße, ihr Kalb trinkt seelenruhig Milch, während rechts und links der Verkehr vorbeibraust.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 23 Ahmedabad

Im Laufe des Tages teilt mir ein Kollege an der Uni mit, dass morgen ein Besuch bei der Metro möglich ist. Eine Stunde später gilt das nicht mehr und der Besuch ist auf nächste Woche verschoben. In Indien muss man immer dreimal nachfragen, ob irgendwas jetzt auch wirklich ganz sicher und echt jetzt gemacht wird...
Mein Bekannter fliegt über das Wochenende nach Jaipur und ich bleibe allein mit dem Haushälter vor Ort. Die Verständigung mit ihm ist schwierig, da er nur wenige Worte Englisch spricht (was mir als "he is decent at English" verkauft wird). Nachdem wir ohne Hausherrn zurückkehren, macht er erstmal indische Musik an und dreht das Radio ziemlich laut auf. Partyyyyyy!

Da wir heute endlich mal früher Feierabend gemacht haben, sehe ich eine gute Chance, noch ein Bahnbild im Abendlicht zu bekommen. Doch ausgerechnet heute Nachmittag sind Wolken aufgezogen. Kaum bin ich auf der Straße, höre ich es schon pfeifen. Da darf man nicht zimperlich sein, ich durchquere irgendwelche Müllhaufen und bemühe mich, in nichts allzu Ekliges zu treten, mich nicht im Dornengestrüpp zu verfangen und keine Straßenhunde aufzuscheuchen. Im Bild muss ich nach links zur Bahnstrecke.
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Keine Minute später rumpelt ein Kesselwagenzug vorbei...
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...und Richtung Sonnenuntergang.
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Als ich der Straße ein Stück weit folge, spricht mich ein 10-jähriger Junge auf einem Fahrrad an. "Are you a foreigner?"
Ich muss wohl ein sehr kurioses Bild abgeben. Unterwegs in einer Stadt, die nie ein Ausländer besucht, an ihrem äußersten Stadtrand, wo kein Tourist je hinfahren würde und dann auch noch zum Eisenbahnfotografieren...
Es folgt ein wenig Smalltalk - woher ich komme, warum ich in Indien wäre, wo ich wohne, wohin ich gehe. Dann saust er mit einem Freund zusammen davon.

Ich laufe noch bis zum nächsten BÜ, der mir zuvor aus dem Auto ins Auge gefallen war. Er ist allerdings nicht besetzt und deswegen dauerhaft geschlossen, was Fußgänger freilich nicht von der Querung abhält.
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Rund einen Kilometer weiter gibt es eine Unterführung, sodass sich der Umweg für Fahrzeuge in Grenzen hält. Rundum wachsen Wohnblocks in die Höhe. Die Bauarbeiter wohnen mit ihren Familien in Wellblechverschlägen daneben.

Nicht übel, wenn man sich einfach an den gedeckten Tisch setzen kann. Während ich fuzzen war, hat der Haushälter Reis, Dal und gegrillte Aubergine zubereitet. Die Auberginen werden übrigens einfach direkt auf der Flamme des Gasherds gegrillt. :D
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Beitrag von Südostbayer »

Zwischendrin einfach mal Danke für die bisher sehr interessante Reiseberichtsserie!
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Beitrag von Entenfang »

Tag 24 Ahmedabad

Heute steht mir der ganze Tag zur freien Verfügung. Also schlafe ich erstmal aus. Der Haushälter staunt nicht schlecht, als er sieht, wie lange ich schlafen kann. "11 o'clock!" Bereits zwei Tage zuvor habe ich entdeckt, dass hinter dem Haus ein Fahrrad steht. Laut meinem Bekannten befindet es sich in fahrbarem Zustand. Doch der Sattel ist viel zu niedrig und es ist wenig Luft in den Reifen. Er verspricht mir, dass sich der Haushälter darum kümmern wird.

Natürlich hat der das nicht getan - hatte ich aber auch nicht erwartet. Er sagt nur "Bopal, Bopal" und deutet grob in Richtung des gleichnamigen Stadtteilzentrums. Also nehme ich die Sache wohl oder übel selbst in die Hand und fahre das kurze Stück auf einem viel zu kleinen Fahrrad. Google Maps verzeichnet eine Fahrradreparatur und nach ein paar Minuten werde ich fündig. Der Sattel lässt sich leider nur um wenige Zentimeter erhöhen. Ich deute noch auf die Reifen und sie bekommen mehr Luft. Der Verkäufer hält mir einen 10-Rupien-Schein hin, als ich ihn fragend anschaue. 12 Cent kostet der Service also.

Erfreulicherweise gibt es hier eine schattige Bank und ich setze mich ein wenig hin, in der Mitte das immer noch furchtbar niedrige Fahrrad. Besser als über 20 Minuten zur Bushaltestelle zu laufen ist es aber doch und vielleicht ergibt sich so noch die eine oder andere Möglichkeit, entlang der Bahnstrecke nach Motiven zu suchen...
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Sauber aufgereiht sind ein paar Rikschas
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Dieser Schmied bittet mich um ein Foto, als ich vorbeikomme
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Die BRT-Trasse führt in Straßenmitte und ist mit Mittelbahnsteigen ausgestattet. Daher sind die hochflurigen Türen auf der rechten Seite angebracht.
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Da die LED-Zielanzeigen nur selten funktionieren, wird in der Regel die Liniennummer anders vorgezeigt. Hier ein seltener Fall der Verwendung der Gujarati-Ziffern. Es handelt sich um die Linie 1.
https://en.wikipedia.org/wiki/Gujarati_numerals

In Ahmedabad gibt es abgesehen vom BRT-System noch Busse von AMTS. Es handelt sich um nicht klimatisierte Fahrzeuge, die in der Regel nicht auf der gesonderten Trasse verkehren, sondern im normalen Verkehr mitschwimmen bzw. -stehen.
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Links ein modernerer Wagen von Ashok Leyland als BRT. Wie gut zu erkennen ist, hat er auf der linken Seite eine Tür zum Niederflureinstieg, denn nicht das komplette Netz ist mit eigener Trasse ausgestattet, sodass normale Haltestellen am Straßenrand mitbedient werden. Die Liniennummer ist hier mit weißer Farbe in die Frontscheibe gemalt.
Der AMTS-Wagen besticht hier durch eine funktionierende LED-Anzeige, hat aber als Redundanz noch ein Zielschild mit Gujarati-Nummer in der Frontscheibe stehen.

Selbst wenn die BRT-Trasse immer frei wäre (was sie nicht ist), gibt es immer noch zahlreiche Knotenpunkte, an denen es üblicherweise so zugeht:
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Die Herangehensweise eines sich annähernden Busses funktioniert oft so: Möglichst wenig bremsen, möglichst viel hupen und hoffen, dass alle im Interesse ihres eigenen Wohlergehens rechtzeitig die Bahn räumen.
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Warum dieses Fahrzeug mit gleich drei Kennzeichen gesegnet ist, kann ich leider nicht erklären. Die mit Kreppband aufgeklebte Liniennummer muss man aber mit der Lupe suchen.

Für rund zwei Wochen meine Haus-Haltestelle: Bopal Gam
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Obligatorische Features: Barrierefreie Rampe zum Hochbahnsteig mit Pollern in so engem Abstand, dass nicht mal die Mofas durchpassen und einer Fußgängerampel, die so gut wie nie funktioniert. Während meines gesamten Aufenthalts habe ich zweimal eine funktionierende Fußgängerampel an BRT-Haltestellen gesehen. Leider hat sie niemand beachtet.

Da wir uns hier nahe der auswärtigen Endstation befinden, kommen die Fahrzeuge stadteinwärts ziemlich regelmäßig im 10-Minuten-Takt. Stadtauswärts gibt es dagegen eher einen Takt 1-19. Ein kleiner Junge bettelt bzw. will mir die Schuhe putzen. Es wird der einzige Fall in diesem Stadtviertel bleiben.

Kühe gibt es hier draußen in großer Zahl auf der Straße
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Wäschetrockner
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Beitrag von Entenfang »

Eine Gated Community, typische Wohnanlage für den Mittelstand
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Die Mittagshitze verbringe ich lieber drinnen bei gebratenem Gemüse, Dal und Chapati
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Doch nachmittags zieht mich die Lust auf einen Kaffee wieder nach draußen. Ich radle zur BRT-Haltestelle, sehe den Bus vor meiner Nase wegfahren, doch schon wenige Minuten später kommt der nächste.
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Wenn ich mich recht erinnere, ist das ein recht neuer Ashok Leyland-Wagen. Alle Fahrzeuge haben einen Frontmotor und der Fahrer sitzt quasi direkt drauf. Dank der eher mäßigen Lärmdämmung hat der Fahrer wenigstens etwas vom Motorgeheule äh Sound.

Viele Haltestellen sind mit diesen Toren ausgestattet, welche die Exklusivität der Busspur gegenüber sämtlichen anderen Verkehrsteilnehmern durchsetzen sollen. Sie öffnen zu meiner großen Verwunderung sogar automatisch nach Einfahrt eines Busses.
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Ein abfahrender Tata-Wagen
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Die Gelegenheit wurde genutzt, mit dem Bau der Bustrasse auch das Stadtbild aufzuwerten. Nur sind die Möglichkeiten dabei natürlich stark eingeschränkt und allzu viel Bewuchs entlang der Trasse ist eher kontraproduktiv, denn die Busse müssen gelegentlich den Ästen ausweichen.

In einer Mall finde ich Kaffee und der ist sogar in einer Porzellantasse. Nur gibt es dazu leider einen Einweg-Holzlöffel, bei dessen Verwendung ich sofort an die Holzstäbchen denken muss, mit denen man beim Arzt zum Husten gebracht wird. Immerhin scheint dem Einwegplastik der Kampf angesagt worden zu sein.

Welche Linien fahren hier an der AMTS-Haltestelle ab?
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In der Nähe gibt es einen Park, der auf der Karte vielversprechend aussieht. Ich laufe hin und suche den Eingang. Die Tore sind versperrt und davor knutschen einige Pärchen auf ihren Mofas. Ich traue mich nicht, zu stören, doch bald fragt jemand, was ich suchen würde. Den Eingang. Er deutet wage in eine Richtung, ein anderer meint: "It's closed now. I think it opens again at 7:30." Also in anderthalb Stunden. Das bezweifle ich, denn im Park halten sich diverse Leute auf. Auf Google Maps sind noch zwei weitere Eingänge eingezeichnet. Und tatsächlich - das Tor 300 m weiter steht offen. Fragt nicht, warum. In Indien sind die Dinge, wie sie eben sind.
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Beim Verlassen des Parks spare ich mir den Umweg und klettere gleich über den Zaun, wie die Einheimischen auch.

Noch ein kurzer Blick zum Tempel auf dem Rückweg
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Die herabhängenden Plastikbänder dienen vermutlich dazu, die Tauben draußen zu halten.

Immer wieder grüßen mich Menschen überrascht, nicht nur beim Busfotografieren. Ich warte über 10 Minuten und als der Bus endlich kommt, fuchtelt eine Wächterin im Fahrzeug herum. Da dämmert mir, gelesen zu haben, dass es spezielle Busse für Frauen gibt. Weitere 5 Minuten vergehen, ehe ich mich in einen ziemlich überfüllten Bus quetschen kann.
Zwei dumme Mofafahrer sind auf die BRT-Trasse gefahren und stecken zwischen Bus und Tor fest. Dieses öffnet anscheinend nur, wenn der Bus korrekt an der Haltestelle steht. Nach viel Gehupe und Rangieren des Mofas geht es endlich auf.


Verehrte Leser, zwecks Beschaffung neuen Bildmaterials in weniger exotischen Gefilden muss die Weiterfahrt in diesem Reisebericht leider pausieren. Sie dürfen gerne aussteigen und die Maske abnehmen. Ich werde die Weiterfahrt rechtzeitig ankündigen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.
Mein Bahnjahr 2023
Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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karhu
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Beitrag von karhu »

Danke für deinen interessanten Bericht :)
Ab 2021 könntest du auch mit dem Bus ohne umzusteigen (!) nach Indien reisen: The Mirror :lol:
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Stellwerk
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Beitrag von Stellwerk »

Ein DICKES Dankeschön zwischendrin!
Oliver-BergamLaim
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Beitrag von Oliver-BergamLaim »

Ich bin absolut begeistert und hingerissen von diesem Reisebericht! :) Es macht ganz ganz großen Spaß mitzufahren und ich freue mich mit Dir, dass Deine Reise vor Corona noch so geklappt hat! :)

Eine Frage nochmal zum Essen ;) sind Dir denn zwischen den einzelnen Regionen Indiens signifikante Unterschiede in der Küche aufgefallen? Oder gibt es letztlich doch im ganzen Land dieselben Gerichte, die dann auch gleich schmecken? Falls es Unterschiede zwischen den Regionen gibt: wo schmeckt es (für unseren Geschmack als Touristen, die indisches Essen lieben) dann am Besten?

Dann noch eine Frage zum Schärfegrad der Gerichte. Wenn ich in Deutschland indisch essen gehe, gibt es ja sowohl sehr scharfe Soßenmischungen bzw. Gerichte auf der Speisekarte, z.B. ein Chicken Vindaloo (das ich in meinem Leben genau einmal bestellt habe und aufgrund der Schärfe kaum essen konnte). Aber es gibt eben auch sehr milde Gerichte, die fast gar keine wahrnehmbare Schärfe haben, z.B. ein Butter Chicken, Chicken Korma oder ein Chicken Jaipuri. Ist das denn in Indien ähnlich, dass es auch völlig milde und gefühlt "nicht scharfe" Gerichte gibt, oder ist dort dann auch ein in Deutschland sehr mildes Chicken Korma sehr scharf gewürzt?
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Beitrag von Entenfang »

Sehr geehrte Leser, wir können den Reisebericht nun fortsetzen. Bitte beachten Sie, dass während der Fahrt die Pflicht zur Mund-Nase-Bedeckung auf diesem Forum besteht.



Ich danke für die lobenden Worte und freue mich über das große Interesse. :)
karhu @ 26 Aug 2020, 21:11 hat geschrieben:Danke für deinen interessanten Bericht :)
Ab 2021 könntest du auch mit dem Bus ohne umzusteigen (!) nach Indien reisen: The Mirror  :lol:
Ich glaube, das wäre nichts für mich. Ich habe auch mal in der Zeit von einer Busreise um die Welt gelesen, aber abgesehen vom Preis passt diese Art der Reise irgendwie nicht zu mir. Ohne es ernsthaft zu erwägen, habe ich aber durchaus mal grob recherchiert, ob man denn auf dem Landweg, noch besser auf dem Schienenweg ;), nach Indien reisen kann. Angeblich ist das sogar möglich, wenn auch zumindest in der Grenzregion Iran/Pakistan als sehr sicherheitskritisch zu bewerten...
Oliver-BergamLaim @ 31 Aug 2020, 13:43 hat geschrieben:Ich bin absolut begeistert und hingerissen von diesem Reisebericht!  :) Es macht ganz ganz großen Spaß mitzufahren und ich freue mich mit Dir, dass Deine Reise vor Corona noch so geklappt hat!  :)
Tja, und so endet vorerst die Reisefreiheit ganz anders, als ich mir das je hätte vorstellen können...
Oliver-BergamLaim @ 31 Aug 2020, 13:43 hat geschrieben:Eine Frage nochmal zum Essen ;) sind Dir denn zwischen den einzelnen Regionen Indiens signifikante Unterschiede in der Küche aufgefallen? Oder gibt es letztlich doch im ganzen Land dieselben Gerichte, die dann auch gleich schmecken? Falls es Unterschiede zwischen den Regionen gibt: wo schmeckt es (für unseren Geschmack als Touristen, die indisches Essen lieben) dann am Besten?
Ich würde schon sagen, dass die Unterschiede sehr deutlich sind. Grundsätzlich unterscheidet man in Punjab-Küche (=Nordindisch) und South Indian. Ich würde sagen, dass bei uns ganz klar Punjab-Küche überwiegt. Dazu gehören eigentlich alle Gerichte, die jeder, der schon zweimal beim Inder essen war, kennt: Dal, Paneer, Gemüsecurrys. Südindisch dagegen war für mich komplett neu - vor meinem Besuch hatte ich noch nie etwas von Idli, Dosa und Mendu Vada gehört und die findet man bei uns auch eher selten. Punjab-Küche bekommt man in Indien eigentlich überall, ich würde sagen, diese Standardgerichte schmecken dann tatsächlich irgendwann alle irgendwie gleich. Südindisch ist (zumindest im Norden, wo ich ja unterwegs war), nicht so gängig und unterschiedet sich deutlich. In Ahmedabad habe ich auf Empfehlung gezielt Restaurants ausgewählt, um südindische Spezialitäten zu verkosten. Wie es in Südindien selbst ist, kann ich mangels Erfahrung nicht beurteilen.
Was am besten schmeckt, kann ich natürlich für dich nicht beurteilen. Jeder hat da ja andere Präferenzen. Ich finde, die Mischung machts. Mein Lieblingsgericht waren Panipuri, die ich bereits zu Beginn gezeigt habe. Gleichzeitig sind die tückisch, weil die Koriandersoße nicht gekocht ist... ;)
Oliver-BergamLaim @ 31 Aug 2020, 13:43 hat geschrieben:Dann noch eine Frage zum Schärfegrad der Gerichte. Wenn ich in Deutschland indisch essen gehe, gibt es ja sowohl sehr scharfe Soßenmischungen bzw. Gerichte auf der Speisekarte, z.B. ein Chicken Vindaloo (das ich in meinem Leben genau einmal bestellt habe und aufgrund der Schärfe kaum essen konnte). Aber es gibt eben auch sehr milde Gerichte, die fast gar keine wahrnehmbare Schärfe haben, z.B. ein Butter Chicken, Chicken Korma oder ein Chicken Jaipuri. Ist das denn in Indien ähnlich, dass es auch völlig milde und gefühlt "nicht scharfe" Gerichte gibt, oder ist dort dann auch ein in Deutschland sehr mildes Chicken Korma sehr scharf gewürzt?
Schärfe allgemeingültig einzuordnen fällt mir sehr schwer. Die Wahrnehmung hängt nach meiner Erfahrung einfach zu sehr davon ab, wie sehr man daran gewöhnt ist. Ich kenne durchaus Menschen, denen ist Essen schon zu scharf, da fällt es mir noch gar nicht richtig auf... :D
Ich würde sagen, Gerichte ganz ohne Schärfe wird man in Indien so gut wie gar nicht finden, außer vielleicht auf speziellen Wunsch hin. Wer also Schärfe gar nicht gewöhnt ist und damit überhaupt nicht klarkommt, dem muss ich von Indien als Reiseland abraten. Ansonsten ist die Bandbreite natürlich sehr weit, teilweise haben wir auch dasselbe Gericht in unterschiedlichen Restaurants unterschiedlich scharf bekommen. Inwiefern die Schärfe automatisch angepasst wird, wenn Ausländer bestellten, kann ich nicht sicher sagen. Ich gehe aber stark davon aus, dass die Einheimischen teilweise deutlich schärfer essen, als wir es bekommen haben. Und viele Gerichte brauchen sehr lange in der Zubereitung, sind also mit Sicherheit schon fertig gekocht und daher auch gewürzt. Naja, und "medium spicy" wird auch überall anders interpretiert... Bis auf das eine Buffet in Allahabad konnten wir alles problemlos essen, haben aber auch immer irgendwas nicht Scharfes wie Reis, Naan oder Raita dazugenommen, um die Schärfe abzumildern.


Tag 25 Ahmedabad

Ich starte den Tag mit einer kleinen Fahrradtour entlang der Bahnstrecke. Nach ein paar Minuten komme ich zu einem BÜ, den ich sogleich dokumentiere.
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Praktischerweise gibt es auch eine Unterführung zum Viehtrieb.

Dann warte ich im Schatten auf einen Zug. 15 Minuten vergehen. Plötzlich winkt mir jemand aus dem Wärter-Kabuff zu. Ich nähere mich und zwei Männer bedeuten mir, reinzukommen.

Besonders stark unterscheidet sich der Posten eigentlich nicht von einem deutschen Pendent.
Zugmeldebuch, Telefon, Uhr...
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...Drucktastenstellwerk für die Bksig...
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...und die Einrichtung zum Heben und Senken der Schranken, inzwischen auf Knopfdruck und nicht mehr per Kurbel.
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Anscheinend ist der BÜ Hp-gesichert, denn erst nachdem der Wärter die Schranken geschlossen hat, stellt er das Signal auf Fahrt.
Und dann kommt pfeifend der Zug angerattert.
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Alle Güterzüge in Indien führen am Zugschluss einen Bremserwagen mit.
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Diese sind auch stets besetzt, doch für Betriebsbremsungen ist ihr Eingreifen nicht erforderlich. Angesichts der verhältnismäßig kurzen Zuglängen erscheint mir das auch nicht nötig. Der Bremser dient quasi als Zugschluss und kann im Notfall eine Bremsung einleiten.

Im Kabuff halten sich drei Männer auf, von denen offenbar zwei betriebliche Aufgaben erfüllen. Einer der drei spricht halbwegs passables Englisch und nutzt die Gelegenheit für ein Schwätzchen. Wie denn ein BÜ in Deutschland aussehen würde? Ob ich davon zufällig ein Foto hätte? Ich erkläre, dass die Unterschiede gering sind, bei uns aber zugbewirkt automatisch schaltende BÜ überwiegen und kein Wärter vor Ort arbeitet. Ich google ein passendes Bild. Interessiert schaut er und die beiden Kollegen auf eine Schranke mit Blinklicht.
Dringdring. Dringdring. Das Telefon unterbricht meine Erläuterungen. Der nächste Zug wird gemeldet und kommt aus lichtgünstiger Richtung.
Ahrrrg! Woher kommt der Typ denn plötzlich angelatscht?
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Und da kommt schon wieder einer westwärts
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Zwischen den Zügen stellt der Wärter weitere Fragen und übersetzt für die beiden Kollegen, wenn nötig. Was mein Beruf wäre? Warum ich nach Indien gekommen sei? Ob ich in einem Hotel wohne? Wie viel man in Deutschland verdiene? Wie viel dort eine Flasche Wasser koste? Wie viel PS eine deutsche Lok habe? Ob ich verheiratet wäre? Ob ich in Indien Reis essen würde und ob wir in Deutschland dasselbe Essen wie in Indien essen würden?
Dringdring. Dringdring.
Dööööö. Dööööö! DÖÖÖÖÖÖÖ! DÖÖÖÖÖÖÖÜÜÜÜÜÜÜÜÜ!
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Und so vergeht eine Dreiviertelstunde, ehe ich mich wieder auf den Sattel schwinge. Ein Tempel in der Nähe
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Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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Beitrag von Entenfang »

Ein Kesselwagenzug
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Noch ein Tempel
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Ich bleibe ein paar Minuten auf einer schattigen Bank sitzen, ehe ich durch labyrinthartige enge Gassen zurückfahre. Ich muss ständig anhalten und überprüfen, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin.
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Ich verfahre mich trotzdem dreimal und ziehe sämtliche Blicke auf mich. Über eine Straße ist nahezu auf ihrer kompletten Breite eine Decke ausgebreitet, auf der irgendwelche Gräser getrocknet werden. Ich traue mich nicht, drüberzufahren, passe aber auch nicht am Rand vorbei. Während ich rätsele, winkt mir eine Frau, drüberzufahren.

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Dieser Tempel sticht mir ins Auge, ich halte an, um ein Bild zu machen. Da kommt auch schon ein Mann angelaufen und bittet mich, näherzutreten. Er schließt den Tempel auf und bittet mich um ein Selfie. Mehrere Kinder sind ebenfalls aufmerksam geworden und plappern auf mich ein, ohne dass ich auch nur ein Wort verstehen würde. Ein 10-jähriger Junge will unbedingt mein Fahrrad ausprobieren und nur mit Mühe kann ich endlich weiterfahren, nachdem er drei Runden im Kreis gefahren ist.


Nachmittags ziehe ich nochmal los. Ich radle zur BRT-Haltestelle und nehme den nächsten Bus. Einige Autos und Mofas müssen umdrehen, weil sie die Trasse befahren haben, aber leider nicht durch das geschlossene Tor kommen. Zuerst fahre ich zu einer Kunstgalerie.
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An der im Hintergrund sichtbaren Kreuzung müssen die Busse eine 180°-Kehre zurücklegen, denn der weitere Trassenverlauf führt wieder einige Hundert Meter zurück und zweigt dort dann ab. Um einen ausreichenden Wendekreis zu erhalten, müssen sie ganz nach links ausholen und können dementsprechend schwer nach rechts abbiegen.

Auch wenn ich kein Kunstkenner bin, hat das Museum mit dem schönen Namen Amdavad-ni-Gufa seinen Reiz.
Ausstellung im Garten
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Das ungewöhnliche Museumsgebäude von draußen...
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...und von drinnen
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Einer der zahlreichen kleinen Tempel am Straßenrand
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Zum Spazieren wurde mir die neu angelegte Uferpromenade entlang des Flusses Sabarmati empfohlen. In der Uber-App kann man auch Rikschas bestellen und das probiere ich gleich mal aus. Der Fahrer ruft mich gleich an, doch ich kann kein Wort verstehen, da er kein Englisch spricht. Laut Standort in der App kommt er jedenfalls nicht näher und nach einigen Minuten storniere ich die Fahrt und bestelle eine Neue. Wieder ruft der Fahrer an und ich verstehe nichts. Doch er steht gleich um die Ecke und ich laufe hin. Das Kennzeichen stimmt zwar nicht mit dem in der App überein, doch auf dem Handy des Fahrers wird mein Name angezeigt, also wird es wohl seine Richtigkeit haben.

Ich hatte gedacht, der große Vorteil einer Bestellung in der App ist es, dem Fahrer nicht das Ziel erklären zu müssen, weil man es selbst auf der Karte auswählen kann. Doch offensichtlich kann er damit nichts anfangen und fragt erstmal ein paar andere Fahrer. Er fährt dann trotzdem irgendwie immer anders als in der App angezeigt und das Ziel rückt eher weiter weg als näher. Irgendwann soll ich ihn dann lotsen, doch er fährt trotzdem falsch. Er hält nochmal an und fragt irgendwelche Wachleute an einem Hotel. Laut App müssen wir umdrehen und ein kurzes Stück weiter rechts abbiegen. 200 m weiter hält er wieder an, um jemanden zu fragen. Der Gefragte ruft jemanden an und reicht mir das Handy. Der Angerufene spricht Englisch und ich erkläre, wohin ich möchte und dass wir laut App so und so fahren müssten. "Exactly." Was genau das jetzt gebracht haben soll, weiß ich auch nicht - aber schön, dass die Menschen hier alle so hilfsbereit sind, wenn auch wenig dabei rauskommt.

Der ursprünglich Befragte erklärt dem Rikschafahrer irgendwas und ich hoffe, dass er es jetzt endlich verstanden hat, doch er fährt wieder anders als erwartet. Statt der prognostizierten 15 Minuten bin ich jetzt schon fast 40 unterwegs. So vergeht die Zeit...
Hier links, hier links...
Er murmelt irgendwas und fährt dann doch geradeaus. Immerhin bin ich jetzt in Flussnähe, zahle ihn aus und beschließe, zu Fuß weiterzugehen.
Nachträgliche Recherchen haben ergeben, dass offenbar die Uferstraße für Rikschas verboten ist und der Fahrer deswegen riesige Umwege gefahren ist, anstatt einfach geradeaus. Denn mehr Geld hat er dafür nicht bekommen, da der Preis vor Abfahrt in der App festgelegt ist.

Der Eintritt in den Park am Hochufer kostet 10 Rupien und ich gebe einen 100er, um stets ausreichend Kleingeldreserven in der Hinterhand zu haben. "No change." Ich auch nicht, behaupte ich einfach. Der Kassierer zieht die Geldschublade auf und zum Vorschein kommt mehr als genug Kleingeld. "No change", lügt er mir dreist ins Gesicht. Ich solle zum Parkplatz gehen und dort irgendwo wechseln. Das ist mir dann doch zu blöd und so gebe ich notgedrungen eine meiner letzten 10-Rupien-Münzen hin.
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Beitrag von Entenfang »

Leider ist die Uferpromenade mit unzureichenden Sitzgelegenheiten ausgestattet und besteht fast komplett aus Beton. Der hat sich im Laufe des Tages stark aufgeheizt und selbst jetzt nach Sonnenuntergang halte ich die Hitze kaum aus. Gute Idee - schlecht umgesetzt. Ein riesiges Plakat wirbt für den wenige Tage zuvor stattgefundenen Besuch des indischen Premierministers mit Trump und dessen Frau in Ahmedabad.
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Wofür diese Konstruktion dient, kann ich nur erraten - möglicherweise zur Gewinnung von Leitungswasser.
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Für die Rückfahrt bestelle ich mir ein Uber, denn ein Kilometer Fußweg bis zur nächsten BRT-Haltestelle ist mir zu weit. Die Bestellung und die Fahrt funktionieren im Gegensatz zur Rikscha problemlos, auch wenn ich die letzten 500 m 10 Minuten im Stau stehe. Ich bleibe trotzdem bis zu meinem Ziel sitzen, denn laufen macht ja auch keinen Spaß.
Ich möchte einem Hypermarkt einen Besuch abstatten und schauen, ob man dort ein paar westliche Produkte erhält, die ich allmählich zu vermissen beginne, richtige Marmelade zum Beispiel. Und meine von daheim mitgebrachte Bitterschokolade ist auch fast weg... Am Eingang muss ich mal wieder meinen Rucksack abgeben, riskiere es dieses Mal aber, die Kamera drinnen zu lassen. Im Laden herrschen ein Lärmpegel und ein Gewusel zum Verrücktwerden. Abgesehen von einer Bäckertheke, an der ich eine Dose Kekse nehme, finde ich nichts Ansprechendes und stelle mich in die ewig lange Schlange an der Kasse. Ein kleiner Junge in den Armen der Mutter schaut mich neugierig an. Die Frau hinter mir rammt mir ständig ihre Einkäufe in den Rücken. Und so vergeht fast eine halbe Stunde, nur um dann an der Kasse zu erfahren, dass man die Kekse direkt am Bäckerstand bezahlen muss und ich mich gar nicht hätte anstellen müssen. Grmpf.

Inzwischen habe ich richtig Kohldampf und gehe zu Domino's Pizza gegenüber in der Erwartung, dass ich dort schnell etwas bekommen werde. Alle anderen Gäste kommen und gehen, nur um meine Bestellung scheint sich niemand zu kümmern. Es dauert eine geschlagene Dreiviertelstunde, bis ich endlich meine Pizza Margherita erhalte, sie müde und heißhungrig runterschlinge und mit einem der letzten Busse zurückfahre.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 26 Ahmedabad

Ich verbringe den ganzen Tag an der Uni. Der Termin mit einem Mitarbeiter der Metro scheint nun wirklich echt jetzt morgen vereinbart zu sein und gemeinsam mit zwei Kollegen rätseln wir, wie man am besten dorthin kommt. Der Treffunkt befindet sich am anderen Ende der Stadt, fast 35 km entfernt von der Uni. Laut Google Maps dauert eine Fahrt rein mit dem ÖPNV etwa 2h, wobei ich höchste Zweifel habe, ob das in Realität nicht deutlich länger dauert. Hier draußen an der Uni fährt der Bus nämlich nach meinen Beobachtungen ziemlich selten.
Auf der einen Seite würde ich natürlich gerne ein bisschen ÖPNV ausprobieren, auf der anderen Seite aber die Reisezeit irgendwie begrenzt halten. Es erscheint sinnvoll, mit dem Auto ein Stück von der Uni zum BRT zu fahren, dieses System bis zur nächstgelegenen Haltestelle zu unserem Ziel zu nutzen und dann eine Rikscha zu nehmen.

Den Rest des Tages lese ich mangels Beschäftigung DSO, denn das EF ist kurioserweise im Gegensatz zu DSO vom Administrator des Uni-Netzwerks gesperrt, weil es sich um eine Hobby-Webseite handelt. Jetzt wissen wir es - die größten Freaks sind auf dem EF und nicht bei DSO! :D

Zusammen mit dem Bekannten mache ich nach Feierabend einen Spaziergang. Wir müssen noch Joghurt für das Abendessen einkaufen und nachdem wir über eine halbe Stunde durch die dunklen und staubigen Straßen gelaufen sind, frage ich schließlich, wo wir denn einkaufen würden. Er fühlt sich sichtlich schlecht dabei, mir zu sagen, dass wir jetzt die Gleise irgendwo überqueren müssten. (Anm.: Da er viele Jahre in Deutschland gelebt hat, sind ihm die Differenzen in puncto Sicherheit sehr wohl bekannt.) Ich sehe da aber kein Problem - man muss sich eben den lokalen Gegebenheiten anpassen und in Tschechien bin ich ja auch über die Gleise gelaufen.

Im Dunklen suchen wir nach erfolgreicher Querung die Fortsetzung des Trampelpfades auf der anderen Seite, ohne dabei im Dornengestrüpp zu landen. Ein junger Mann, der gerade am Bahndamm sein großes Geschäft erledigt, ist uns gerne dabei behilflich - als wäre es das normalste auf der Welt, beim Kacken jemandem den Weg vom Bahndamm durch das Dornengestrüpp zu erklären. Zwei überquerte Stacheldrahtzäune später (die schon ordentlich mitgenommen und die Drähte nach unten gebogen sind) stehen wir wieder auf einer richtigen Straße - willkommen in Indien...
Die drei Menschen, zwei Hunde und zwei Taschen auf einem vorbeiknatternden Mofa fallen mir nur noch am Rande auf. Wir passieren Wellblechhütten am Rande der Baustellen für die Hochhäuser. Vor einigen flackert ein Lagerfeuer und der Duft nach indischen Gewürzen zieht in meine Nase.
Ungelernte Arbeitskräfte verdienen etwa 7 ¤ pro normalen Arbeitstag, also etwa 8h. Es ist üblich, dass sie noch Überstunden machen, um mehr Geld zu verdienen, bis zu 30 Tage am Stück ohne Ruhetag arbeiten und nach 8 bis 9 Monaten genug gespart haben, um in ihre Heimat zurückzukehren und die Familie zu unterstützen. Wohlgemerkt - wir sprechen hier über äußerst harte körperliche Arbeit (Zementsäcke durch den Rohbau auf den Schultern hochtragen) unter heftigen klimatischen Bedingungen (in den Sommermonaten stets über 40°C bei sengender Sonne).
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Beitrag von Entenfang »

Tag 27 Ahmedabad

Gestern hieß es, dass wir gegen 9:30 Uhr von der Uni losfahren sollten, damit wir etwa um 11:00 Uhr am vereinbarten Treffpunkt sind. Als wir um 9:15 Uhr in der Uni ankommen, ist vom Kollegen, der mich begleiten wird, nichts zu sehen. Erst um 10 taucht er auf. Mich wundert inzwischen gar nichts mehr, denn zu Pünktlichkeit hat man in Indien eben ein völlig anderes Verhältnis als in Deutschland. Tatsächlich werden mich gleich zwei Kollegen von der Uni begleiten.

Der Fahrer bringt uns schließlich zur nächsten BRT-Station (und denkt sich sicherlich seinen Teil dazu, dass der Ausländer immer mit dem Fahrrad zum Bus fährt und solche lustigen Aktionen plant). Mit einem Umstieg können wir so in die Nähe unseres Ziels gelangen.

Wir nehmen also den Bus - glücklicherweise gibt es noch ausreichend Sitzplätze - und fahren etwa eine halbe Stunde. Ein älterer Herr schüttelt mir die Hand. "Which country?" Die Kollegen erklären den Grund meines Aufenthalts und dieses Ausflugs, da er nur wenige Worte Englisch spricht. "You're very welcome to India!", meint er zu mir, als wir aussteigen. Wir müssen eigentlich in die Linie 5 umsteigen, doch die ist auf dem Bildschirm nicht unter den nächsten 10 Abfahrten. Ich glaube ja eher, dass ein Übertragungsfehler vorliegt, als dass der Bus gar nicht (oder erst in über 20 Minuten) fährt, doch die Kollegen haben gute Argumente auf ihrer Seite, als sie vorschlagen, eine andere Linie zu nehmen, die schon ein paar Haltestellen vor unserer eigentlich geplanten Ausstiegshaltestelle endet und von dort eine Rikscha zu nehmen.

Auf den schlechten Straßen werden die Insassen des Busses gut durchgeschüttelt. Immerhin ist das Fahrzeug nicht so überfüllt. An einigen Stellen sitzen Menschen auf einem Plastikstuhl zwischen Bustrasse und normaler Fahrbahn und halten ein Seil hoch, um nicht berechtigte Verkehrsteilnehmer von der Einfahrt in die Bustrasse abzuhalten. Manche sitzen einfach nur da und halten das Seil in der Hand, ohne es zu spannen und so fahren auch die Mofas wie die Busse über das Seil. Mancherorts gibt es ein improvisiertes kleines Dach aus irgendwelchen Planen, um die Sonne fernzuhalten. Jobs, die keiner braucht... Die automatischen Tore gibt es nur auf den späteren Erweiterungen des BRT-Netzes.

Eine weitere halbe Stunde später steigen wir aus und 30 Sekunden später fährt schon die Linie 5 ein, welche zuvor nicht auf dem Bildschirm angezeigt wurde. So kommen wir doch noch zur ursprünglich vorgesehenen Zielhaltestelle. Dort wartet am Ausgang schon eine Rikscha und ein Mann, der auch aus dem Bus ausgestiegen ist, sitzt bereits in der Rikscha. Offenbar will er in dieselbe Richtung wie wir und natürlich quetschen wir uns zu viert auf die Rückbank. Da kommen noch zwei ältere Frauen, die auch mitfahren wollen. Ein Kollege und der zuerst eingestiegene Mann quetschen sich auf den Sitz zum Fahrer, die beiden Frauen zu mir und dem anderen Kollegen auf die Rückbank. Zum Glück sind wir alle schlank... Und los geht's - sieben Personen in einer Rikscha ist für mich neuer Rekord.

Im März 2019 wurde ein erster kurzer Abschnitt der Metro vom Depot Apparel Park bis zur östlichen Endstation Vastral Gam eröffnet. Dort erwartet uns ein Bekannter eines Kollegen, der Stationsvorsteher in Vastral Gam und auch U-Bahnfahrer ist. Der gute Kontakt hat den großen Vorteil, dass ich trotz der unzähligen Wachleute und des überall aushängenden Fotografierverbots meinem Hobby nachgehen kann und hier auch bildliches Material zeigen kann. Nach einer äußerst peniblen Sicherheitskontrolle mit Durchsuchen des Rucksacks und Abtasten mit einem Metalldetektor auf Straßenniveau dürfen wir in das Zwischengeschoss. Der Aufbau der aufgeständerten Stationen ist ähnlich wie in Jaipur und die Bauweise ähnlich monströs und mit viel Platz.
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Rechts der Control Room, aus dem der Stationsvorsteher den Bahnhof mit Überwachungskameras im Auge behält, aber auch die technischen Anlagen und als Ansprechpartner für die Fahrgäste zur Verfügung steht.
Wie im Hintergrund deutlich zu erkennen ist, herrscht noch rege Bautätigkeit. Beispielsweise fehlen noch die Rolltreppen und Aufzüge. Alle Stationen werden (theoretisch) komplett barrierefrei erreichbar sein - wie weit man dann auf Straßenniveau barrierefrei kommt, steht auf einem anderen Blatt.

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Wie in allen indischen Metrosystemen gibt es Zugangssperren. Im Hintergrund ein Pausenraum für das Fahrpersonal.

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Bahnsteigebene - alle aufgeständerten Haltestellen werden mit Seitenbahnsteigen ausgestattet, die unterirdischen mit Inselbahnsteigen. Dazu gibt es halbhohe Bahnsteigtüren, die aktuell noch nicht fertiggestellt sind. Aber wofür wohl der mit schwerer Schusswaffe ausgestattete Wachmann gebraucht wird?! Ein Problem macht sich jedenfalls schon bemerkbar und das sind die Tauben.

Auf dem rund 7 km langen Abschnitt pendelt ein einziger Zug siebenmal täglich im 50-Minuten-Takt.
https://www.gujaratmetrorail.com/passenger-...ion/time-table/
Er verkehrt noch völlig ohne Zugbeeinflussung und ist daher im vorderen und hinteren (!) Führerstand stets mit zwei Fahrern besetzt.
Die Fahrten dienen in erster Linie der Schulung des Fahrpersonals und als Testfahrten, können aber auch ganz regulär von Fahrgästen genutzt werden.

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Hier kommt endlich der Dreiwagenzug von Hyundai-Rotem eingefahren.
Während die meisten indischen Metros mit Überleitung ausgestattet sind, hat man sich in Ahmedabad für eine Stromschiene entschieden. Des Rätsels Lösung: Ich bin bereits darauf eingegangen, dass Drachensteigen eine beliebte Beschäftigung von Kindern ist. Wie im Hintergrund gut zu erkennen ist, sind die Häuser ziemlich nahe an der U-Bahntrasse und da hatte man wohl gewisse Bedenken.

Die Züge bestechen durch nüchternes Design, Klimaanlage und Längsbestuhlung. Separate Frauenabteile wie in Delhi sind nicht vorgesehen. In der NVZ wird mit 3 P/m2 gerechnet, sodass dann ein Dreiwagenzug 450 Fahrgästen Platz bietet. In der HVZ bei 6 P/m2 sind es 764. Alle Haltestellen sind auf Doppeltraktionen ausgelegt, in der auf rund 130 m dann 1500 Fahrgäste befördert werden können.
Außerdem sind die Züge für den vollautomatischen Betrieb vorbereitet, der aber frühestens in 7 Jahren kommen soll.
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Indientypisch musste bereits improvisiert werden, ehe der Regelbetrieb überhaupt begonnen hat.

https://en.wikipedia.org/wiki/Ahmedabad_Metro
Phase 1, bestehend aus einer Nord-Süd-Linie und einer Ost-West-Linie, insgesamt 40 km, soll schon im Jahr 2021 eröffnet werden. Phase 2 ist bereits genehmigt und wird die Nord-Süd-Linie bis in die Regierungsstadt Gandhinagar nördlich von Ahmedabad verlängern sowie einen kurzen Abzweig zu einem Unicampus beinhalten.

Wer noch mehr Details nachlesen will, wird im 723 Seiten langen pdf fündig.
https://www.gujaratmetrorail.com/wp-content...ro-DPR-2014.pdf

In sehr gemütlichem Tempo legen wir die Strecke über den Dächern der Stadt zurück.
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Ein typischer Straßenquerschnitt in Indien - zusätzlich zur gut ausgebauten Ringstraße gibt es noch beidseitig eine Service Road, welche die Fahrräder, fliegenden Händler etc. aufnimmt, um den Verkehr zu beschleunigen.
Das gleiche Prinzip mit BRT in der Mitte
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Der Bahnhof Apparel Park ist großzügig mit drei Gleisen ausgestattet, wobei das Gleis rechts nur zum Depot führt, die beiden Gleise links von der aufgeständerten Trasse zum Tunneleingang geführt werden.
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Beitrag von Entenfang »

Die Konstruktion fügt sich hübsch ins Stadtbild ein. Nicht.
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Interessant finde ich, dass man am Ausgang zuerst das Token an einen Scanner an der Sperre halten muss. Erst danach wird der Schlitz freigegeben, in den man das Token werfen und die Sperre öffnen kann.

Wir nehmen eine Rikscha zu Subway, wo wir thematisch passend unser Mittagessen einnehmen. Praktischerweise ist es von dort nur ein kurzer Fußweg zur nächsten BRT-Haltestelle.
Braucht jemand eine neue Windschutzscheibe für seine Rikscha?
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Und warum hat Indien ein Taubenproblem? Darum:
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Der ganz alltägliche Verkehr
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Normale Busse müssen generell herangewunken werden und wenn man Glück hat, bleiben sie sogar stehen.
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In der Straßenmitte ist die BRT-Trasse nur in eine Richtung vorhanden, da sie in einer großen Häuserblockschleife geführt wird.

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Was kann an Eis eigentlich nicht vegetarisch sein?
"Die Gelatine", erläutert mir ein Kollege. Außerdem erzählt er mir noch, dass es in Indien auch eine Gruppe der Unter-der-Erde-Vegetarier gibt, die nichts essen, das unter der Erde wächst (z.B. Kartoffeln). Die Begründung dafür lautet, dass beim Ausgraben die Bodenfauna gestört wird. Ganz einleuchtend finde ich das nicht - auch oberirdisch wachsendes Gemüse muss schließlich gepflanzt und die Reste irgendwann umgeackert werden.

Ein Elektrobus kommt angesirrt
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Fast eine Dreiviertelstunde dauert die Busfahrt, dann nehmen wir eine Rikscha zurück zur Uni. Fast einen ganzen Tag hat der Ausflug gedauert, aber trotzdem sehr lohnend.
Man stelle sich also vor, für einen interessierten ausländischen Bekannten werden ein Auto mit Fahrer und zwei Kollegen bereitgestellt - das wäre bei uns wohl völlig undenkbar.

An diesem Flugzeug werden Ingenieure der Instandhaltung ausgebildet
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Als mein Bekannter endlich bereit für den Feierabend ist und wir noch ein Schwätzchen mit einem zufällig getroffenen Kollegen hinter uns haben, erklärt er mir, dass er noch schnell in irgendein anderes Büro irgendwas besprechen müsse. Ich spare mir weiteren Smalltalk und halte lieber den Sonnenuntergang fest - diesen Vorteil hat die Lage der Uni am Ende der Welt zumindest.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 28 Ahmedabad

Der Vormittag zieht in der Uni ins Land. Zum Mittagessen gibt es in der Kantine ein besonderes Dal, das süß ist. Mal was Anderes. Aber ehrlich gesagt fände ich ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln allmählich schon verlockend...
Ich möchte heute mal etwas zeitiger aus der Uni verschwinden und nicht den ganzen Nachmittag drinnen verbringen. Als Ziel habe ich die angeblich beste Shopping Mall der Stadt auserkoren. Gegen 15 Uhr gelingt es mir schließlich. Doch als ich ein Uber rufen will, meint ein Kollege, dass sein Besucher gerade zufällig in dieselbe Richtung müsse und mich natürlich mitnehmen könne.
Ein anderer Kollege gibt mir gute Ratschläge - ich solle mir doch mal eine Maske wegen Corona kaufen. (Anm.: Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits erste bestätigte Fälle in Indien.) Hier in Ahmedabad wäre es natürlich überhaupt kein Problem und an der Uni sowieso nicht. Es wäre ja niemand in China gewesen. Aber wenn ich dann weiter nach Jaipur oder Delhi fahren würde - mit den ganzen Touristen wäre das sehr gefährlich dort... Zu diesem Zeitpunkt erschien es mir noch grotesk, angesichts all der anderen Gefahren, die in Indien lauern und vor denen ich mich auch nicht übermäßig fürchte.
In China hätte es aber schon über 40.000 Tote gegeben, fährt der Kollege unbeeindruckt fort. Eine andere Kollegin mischt sich ein, dass das ja nicht sein könne, denn das wäre mehr als die Gesamtzahl Infizierter. Jaja, aber irgendein Bekannter aus China hätte ihm erzählt, dass die offiziellen Zahlen nicht stimmen würden. Ich unterdrücke ein Gähnen und den auf der Zunge liegenden Kommentar: Und dein Bekannter hat sicher selbst alle Toten gezählt?
Ich bin froh, als ich endlich mit dem Besucher des anderen Kollegen im Auto sitze und nicht weiter über das leidige Thema Corona diskutieren muss, welches schon zu Beginn meiner Reise permanent auf der Agenda stand. Es sollte mich früh genug wieder einholen.

Ich werde in der Nähe meines Ziels abgesetzt und ich nehme eine Rikscha für den Rest der Strecke zu einem Park an der Mall.
Straßenszenen
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Ehe ich in den Park gehe, brauche ich noch eine Flasche Wasser. Aus Indien stammt eine geniale Idee - der Maximum Retail Price (MRP). Auf sämtlichen (verpackten) Produkten vom Wasser bis zum Laptop gibt es einen aufgedruckten MRP. Es ist untersagt, ein Produkt über diesem Preis zu verkaufen, Ausnahmen gibt es z.B. im Restaurant. Der Kioskverkäufer sollte der einzige auf der ganzen Reise bleiben, der für das Wasser 30 Rupien verlangt, obwohl ich ganz genau weiß, dass der MRP 20 beträgt. Ein kurzes Zögern, ich habe noch gar nicht laut protestiert, genügt, um ihn zum Einlenken zu bewegen nicht zuletzt, weil ein paar umstehende Männer auch sofort protestieren.

So eine Bank ist doch verlockend:
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Nach links geht's links lang.
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Arbeitssicherheit?! Vermutlich weiß in Indien niemand, was das Wort überhaupt bedeutet.
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Die Sicherheitskontrolle am Eingang in die Mall fällt lasch aus. Ich will es hier nochmal mit einem Besuch in einem Supermarkt versuchen, der sich im Keller befindet. Zumindest zum Frühstück verspüre ich stark abnehmenden Appetit auf gebratenen Reis und stark gewürztes Gemüse und sehne mich nach Toast (gibt es) mit richtiger Marmelade (die gefärbte, nach Chemie schmeckende Paste ist glücklicherweise ausgegangen).
Und siehe da, ich werde fündig. Zwar gibt es die rote Chemieküche in allen Größen, aber auch eine aus Frankreich importierte Premium-Waldbeerenmarmelade zum fünffachen Preis. Sogar Bitterschokolade finde ich und begebe mich glücklich zur Kasse. Keine ewigen Schlangen, kein Gedränge. Zwei Minuten später bin ich wieder draußen. Da fällt mir auf, dass ich nicht mal den Rucksack abgeben oder versiegeln lassen musste und auch der Kassenbon muss nicht noch dreimal kontrolliert und abgestempelt werden. Nach 4 Wochen Indien freue ich mich über ein wenig gewohnte Normalität aus der Heimat.

Der Indoor-Spielplatz mit dröhnender Musik darf nicht fehlen
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Was ich in der Premium-Mall jedoch vergeblich suche, ist Kaffee aus einer richtigen Tasse. Da verzichte ich lieber ganz darauf. Zum Kuchen gibt es natürlich auch einen Arzt-Holzlöffel. Ich nehme mir vor, zusätzlich zum Klopapier und zum Anti-Klimaanlagen-Pulli noch einen richtigen Löffel in die Standardbeladung meines Rucksacks aufzunehmen. Oder soll ich auch gleich noch eine Porzellantasse mitbringen und schauen, was dann passiert?

Da der Rikschafahrer Mondpreise verlangt und nicht mit sich verhandeln lässt, nehme ich ein Uber zum bereits bekannten BÜ. Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang kommt die andere Seite ins Licht.
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Kaum ist der Reisezug durch, rumpelt auch schon ein Gz herbei...
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...und in den staubigen Abend.
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Ein Mann läuft zusammen mit einem Jungen über die Gleise, beide tragen irgendwelche Blecheimer. Er plappert vor sich hin, geht mir auf die Nerven und deutet auf die Oberleitung und auf die Straße. Ich ignoriere ihn, doch er zieht nicht ab. Nach ein paar Minuten gebe ich auf und gehe in die entgegengesetzte Richtung davon. Die beiden schleppen ihre Blecheimer durch das Gleisbett weiter.

Doch heute ist mir nur wenig Glück vergönnt. Es kommt kein weiterer Zug mehr bis zum Einbruch der Dämmerung vorbei.
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