[PL|BY|LV|RU] Von Pierogi bis Pelmeni

Eure Reportagen und Reiseberichte finden hier ihren Platz, gerne auch Bilder abseits von Gleisen
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Entenfang
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Beitrag von Entenfang »

Oliver-BergamLaim @ 11 Dec 2018, 15:18 hat geschrieben:Es handelt sich um eine der Sieben Schwestern aus der Stalinzeit, gebaut zwischen 1947 und 1957.
Das war der Name, den ich gesucht habe, mir aber nicht mehr eingefallen ist. Danke fürs Aufgleisen.
Die Kulturpaläste in Warschau und Riga - auf dem in Riga warst Du ja auf der Aussichtsplattform oben - sind ebenfalls in den 1950er Jahren entstanden und architektonisch an die Moskauer Vorbilder angelehnt.  :)
Und in Prag gibts auch ein Exemplar, wie mir kürzlich aufgefallen ist.
Der Münchner Marienplatz und der Stachus lassen grüßen  ;) zumindest, was Sitzgelegenheiten ohne Verzehrzwang betrifft.
Stimmt, jetzt wo du es sagst. Ein Unding, das irgendwie alle zentralen Plätze gemeinsam haben. Staromestské namestí in Prag? Nach langem Ringen ein paar Bänke. Markusplatz in Venedig? Überall Verbotsschilder, man dürfe sich nicht auf Treppen und Sockel setzen.
Gab es denn wirklich keinerlei ersichtlichen Preisaushang? Selbst wenn der nur auf Russisch/kyrillisch gewesen wäre, würde man ja die Zahlen rauslesen können oder etwas wie "24" für den Preis von 24 Stunden Gepäckaufbewahrung erkennen.
Doch, gab es, ein unscheinbarer A4-Zettel an der Wand neben der Annahmestelle. Ich habe ihn aber zuvor nicht gesehen/beachtet. Der Preis ging daraus zweifelsfrei hervor.
Denn nach wie vor, mögen die meisten Russen im Zug lieber schlafen und nicht sitzen.
Das Gefühl hatten wir auch.

---

Noch ein Nachtrag zu Riga, da ich inzwischen eine sehr ausführliche Erläuterung der Verkehrsbetriebe zu meinem Vorschlag für Taktverkehr bekommen habe:

Die Rigaer Verkehrsbetriebe sehen die Prioritäten offensichtlich anders, als man das bei uns in Deutschland gewohnt ist. Ein merkbarer Fahrplan ist ihnen nicht so wichtig. Grundsätzlich nennen sie 7 Gründe, die gegen meinen Wagenlaufplan sprechen.

1. Entspricht die aus den Aushangfahrplänen ersichtliche Umlaufzeit nicht dem realen Wert. Dieser ist 2 Minuten höher und ergibt sich aus der fahrgastlosen Fahrt durch die Wendeschleife Kengarags.
2 Punkte beziehen sich auf Anschlussbeziehungen zur Linie 5 am Nationaltheater und die mehr oder weniger parallel (aber sehr selten) verkehrenden Verstärkerlinien 3 und 9. Natürlich müssten deren Fahrpläne dann auch angepasst werden.
3. sollen an der Einfachhaltestelle Centraltirgus möglichst große Abstände zwischen den ankommenden Bahnen von 6 Linien liegen, weil sonst der hintere Zug warten muss.

Die letzten beiden Punkte habe ich bereits als Gründe ausgemacht bzw. geahnt:

4. Während einer Schicht muss der Fahrer mindestens 20 Min. zusammenhängende Pause haben.
5. In der Morgenspitze fahren die Bahnen derzeit teilweise etwas dichter als Takt 7/8. Aufgrund der sehr hohen Auslastung wird selbst eine geringfügige Taktausdünnung als nicht machbar angesehen.

Für mich sieht es ganz danach aus, als hätte man mein Konzept tatsächlich ernsthaft geprüft. Es ist jedenfalls klar, dass mit dem im Riga praktizierten System mit demselben Ressourcenaufwand an Fahrzeugen und Fahrpersonel mehr Abfahrten angeboten werden können als im Taktverkehr. Oder um es plakativ aus einer Vorlesung zur S-Bahn zu übernehmen: Takt ist teuer.

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Tag 15 Samara

Vor dem Weiterlesen bitte mal eine Landkarte Russlands vorstellen.

Dann gedanklich eine Stecknadel für Moskau setzen.

Aber wo liegt eigentlich Samara? Das war eine der häufigsten Fragen, die mir zu dieser Reise gestellt wurden. Samara ist immerhin mit knapp 1,2 Mio. Einwohner die sechstgrößte Stadt Russlands. Und wahre Geografieexperten können doch sicher auch noch die anderen 14 russischen Millionenstädte nennen?


Inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden, morgens im Zug aufzuwachen. Bunt gefärbte Bäume ziehen vorbei, dann Sümpfe.
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Schließlich queren wir die Samara, einen Nebenfluss der Wolga.
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Nach dem Ausstieg wird das beeindruckende Lichtraumprofil deutlich.
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An der Bahnsteighöhe ist erkennbar, dass die Gleise auch dem GV dienen. In Moskau sind wir bodengleich eingestiegen.

Der Bahnhof von Samara ist modern und es gibt noch eine Postverladestelle. Dieser Zug führt einen Postwagen mit.
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Unser Dolmetscher erwartet uns hier und wird uns die nächsten 5 Tage quasi Tag und Nacht zur Seite stehen.


Um das Geografierätsel zu lösen: Samara liegt gut 1000 km ostsüdöstlich von Moskau. So, und jetzt bitte ein klischeehaftes Bild einer gesichtslosen russischen Großstadt vorstellen.



Bitte wirklich klischeehaft!


Sieht das dann so aus?
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Verlassen wir also den Bahnhof, und sehen wir nach, ob Samara die gesichtslose Großstadt ist, die wir uns alle vorgestellt haben.
Obusse auf dem Bahnhofsvorplatz
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Wir aber nehmen eine Marschrutka und fahren eine halbe Stunde Richtung Uni.

In Samara ist der Verkehr viel chaotischer als in St. Petersburg oder Moskau und zwischen die schwarzen Hausfrauenpanzer SUV gesellen sich viele alte Klapperkisten. Unsere Marschrutka ist da keine Ausnahme. Hochflur-Obusse und klapprige Tatras rumpeln durch die schier endlose Stadt, die aus einer Ansammlung von Wohnblocks, Autohäusern und Brachflächen zu bestehen scheint. Zumindest bis hierhin scheint unser Klischeebild zuzutreffen.

Die Fußwege sind hier ebenfalls in wesentlich schlechterem Zustand, aber durchaus noch ok.
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Spielplatz im Hinterhof
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Spätestens mit der Ankunft am Gästehaus beginnt das Klischee zu bröckeln – man scheint sich am CRH380D inspiriert zu haben.
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Nicht nur von außen, sondern auch von innen komplett saniert und auf einem modernen Stand ist es mit Abstand unsere luxuriöseste Unterkunft.

Nach einem schnellen Mittagessen in der Stolovaya nebenan gibt es eine Führung über den Campus. Die nähere Umgebung wirkt eher wie ein Urwald.
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Wir wollen ganz zwanglos mit Studenten ins Gespräch kommen. Das funktioniert so: Der Dolmetscher quatscht einfach willkürlich irgendwelche herumstehenden oder -laufenden Studenten an. Sie sollen uns bitte auf Englisch irgendeine Frage stellen. Das klappt mittelmäßig gut – um es mal vorsichtig auszudrücken. Entweder die russischen Studenten können kein Englisch oder sie trauen sich nicht, es in plötzlicher Anwesenheit einer deutschen Studentengruppe anzuwenden. (oder sie wollen einfach in Ruhe ihre Zigarette rauchen.)
Mein Bahnjahr 2023
Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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Beitrag von Entenfang »

Woran man merkt, dass wir unsere Partneruni erreicht haben:
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Der wohl unangenehmste Programmpunkt ist der anschließende offizielle Empfang. Der Prorektor begrüßt uns, während zehn russische Studenten in Uniform dabeistehen. Anschließend soll eine ganz „ungezwungene“ Unterhaltung stattfinden. Ohne Dolmetscher funktioniert das aber aufgrund der fehlenden Englischkenntnisse kaum. Von den zehn Studenten war nur eine schon mal in Deutschland – als kleines Kind.
Wir bitten die Studenten dennoch, drei Begriffe zu nennen, die ihnen durch den Kopf gehen, wenn sie „Deutschland“ hören.


Vor dem Weiterlesen bitte erstmal selbst drei Begriffe überlegen!



Genannt werden, in dieser Reihenfolge:

-Gotische Kathedralen
-Autos
-Pünktlichkeit

Dass wir hier im „richtigen“ Russland angekommen sind, merkt man an vielen Dingen. Statt auf Hochglanz poliertes Parkett gibt es hier Fliesen, die zum Teil locker sind. Außerdem ist das Gebäude gespickt mit Stolperfallen. Das beginnt beim Straßenpflaster und den Löchern, die Treppenstufen sowohl außerhalb des Gebäudes, aber auch im Treppenhaus sind ungleich hoch und überall gibt es kleine Rampen und Türschwellen. Es gibt nur Hockklos, och nö. Die habe ich seit Marokko wirklich nicht vermisst.
In unserer Unterkunft dagegen gibt es richtige Toilettenschüsseln und über die korrekte Benutzung ebendieser gibt es in Russland oft die 4 practical advice for visitors of the toilet room:
20693
Eigentlich sind es ja 5, und der No smoking ist generell der wichtigste.

Man merkt es aber auch an so typisch russischen Konstruktionen. Was den typisch Russisch sei, habe ich zu Beginn der Reise jemanden gefragt, der bereits vor 5 Jahren auf der Exkursion nach Omsk dabei war. „Du wirst es merken.“
Vielleicht war ja diese Kreuzung gemeint. Eine Fußgängerampel gibt es, Zebrastreifen auch. Man hat auch daran gedacht, das Geländer zu unterbrechen. Nur einen Fußweg zu bauen, das ist dann doch zu viel verlangt.
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Oder diese Rohre, die quer über das ganze Unigelände verlaufen und deren Isolierung wohl dem Wetter nicht standgehalten hat.
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Außerdem bekommen wir eine Führung durch das komplette Uni-Gebäude, welches auch zahlreiche Sporträume beherbergt. Es gibt Hallenfußball, Boxraum, Krafttraining… Als wir letzteren Raum betreten, dreht der Führer einfach mal die Musik leiser, damit er uns ein paar Worte erzählen kann. Dafür gibt es missbilligende Blicke der Trainierenden.
Die schlimmste Aktion ist jedoch die Führung ins Schwimmbad mit Straßenschuhen. Als die Putzfrau das sieht…

Zuletzt besichtigen wir noch die integrierte Kirche. Auch für Verkehrsstudenten sind Sport- und Religionskurse teilweise verpflichtend oder werden als Wahlfach angeboten. „Die meisten Studenten nehmen das Fach ernst.“ Für mich klingt das eher danach, dass die meisten es nicht ernst nehmen. „Ach, und Wahlfach bedeutet in Russland übrigens nicht, dass du das selbst auswählst“, erläutert mir der Dolmetscher anschließend, „das entscheidet der Rektor.“
Das russische Bildungssystem und auch die Universitätsausbildung unterscheidet sich ganz erheblich von unserer Gewohnheit. Selbst an der Uni ist die Bildung viel umfassender und mehr an unseren Schulfächern orientiert, es gibt weniger Freiheiten und Wahlmöglichkeiten und Sport wird viel wichtiger angesehen. Fremdsprachen spielen dagegen kaum eine Rolle. Diese Eindrücke habe ich zumindest aus unserem (sehr kurzen) Besuch mitgenommen.

Zeit für einen Abendspaziergang an der Wolga – wir fahren Metro. Das Metronetz Samara ist sehr übersichtlich.
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Geplant war ursprünglich mal das typisch sowjetische Sekantennetz, eine zeitnahe Umsetzung ist aber keinesfalls zu erwarten. Der Ausbau steht weit hinter den Planungen zurück und geht nur im Schneckentempo voran.

Am wahrscheinlichsten ist noch eine Verlängerung Richtung Südwesten, die schließlich Richtung Süden abknickt und den Bahnhof anbindet.
Tagsüber verkehren 4-Wagen-Züge etwa im Takt 10, abends etwas seltener.

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Hat doch bisschen was vom B-Wagen, oder?


Der letzte Ausbau um eine Station bis Alabinskaja erfolgte 2015.
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Die Rolltreppenüberwacherin schläft in ihrem Kabuff. Gibt ja angesichts der überschaubaren Fahrgastzahlen kaum was zu sehen. Lediglich 44.000 Fahrgäste täglich nutzen die Metro.

Geschmückter Plattenbau
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Wir haben schon die Ladas vermisst – in Samara entdecken wir sie endlich in großer Stückzahl.
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Im nahe gelegenen Toljatti befindet sich das Lada-Werk.

Zur WM wurde das Stadtbild aufgehübscht und unter anderem Spielplätze errichtet.
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Zentrumsnäher sind auch die Fußwege in besserem Zustand.
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Beitrag von Entenfang »

Als wir die Uferpromenade samt Radweg erreichen, wird das Wetter ungemütlich.
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Willkommen im Matroschka-Land.
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Blick über die Wolga
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Das Abendessen fällt miserabel aus, weil die eigentlich ausgesuchte Brauerei voll ist. Wir bekommen nach ewiger Wartezeit irgendwas Gebratenes im Plastikgeschirr und teilweise nicht mal das, was wir bestellt haben.

Die Müdigkeit schlägt zu und ich beschließe, früh Feierabend zu machen und mit der Tram zurückzufahren. Blick Richtung Brauerei
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Hoppla. Samara hat ja auch schöne Seiten.

Puschkin-Platz mit orthodoxer Kirche
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Vasili-Capaev-Monument und Theater
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Katholische Kirche
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An der Haltestelle gibt es keinerlei Informationen, keinen Fahrplan, nicht mal Liniennummern. Nur ein simples Haltestellenschild. Ohne Yandex Transport wäre die Nutzung schwierig.

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Ich steige ein und rätsele, wo ich meine Smartcard entwerten kann. Da winkt mir die Schaffnerin zu, ich halte die Karte an das Lesegerät und bekomme eine Quittung. Statt 25 Rubel zahlt man so nur 23 Rubel (30 Cent).
Der T3 rumpelt mit einer Handvoll Fahrgäste durch die stimmungsvoll beleuchteten Straßen. Hier sind die Haltestellenabstände ziemlich kurz, alle 300 m bleiben wir stehen. Alle Weichen müssen von Hand gestellt werden.

Und auf einmal halten wir ruckartig ein Stück vor einer Haltestelle an. Das Licht im Innenraum ist erloschen. Die Fahrerin steigt aus und kontrolliert den Stromabnehmer. Dann zündet sie sich eine Zigarette an. Sieht nicht so aus, als würden wir gleich weiterfahren. Ich schaue auch raus, der Stromabnehmer scheint in Ordnung zu sein. Die Fahrerin sagt etwas zu mir, aber ich verstehe es natürlich nicht. Ich stottere irgendwas in einer Mischung aus Tschechisch und Russisch zusammen. „Ten minutes“, meint ein älterer Herr, der ebenfalls qualmend neben der Fahrerin und der Schaffnerin steht.
Ein paar Minuten später probiert die Fahrerin, ob wieder Strom da ist. Nichts.

Der nächste Kurs läuft auf.
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Auch die nächsten zwei Versuche schlagen fehl, inzwischen sind schon mehr als 10 Minuten vergangen und der Mann als einziger Fahrgast verschwindet mit einem Bus. Ich suche mithilfe der Handy-Taschenlampe anhand des aushängenden Netzplans nach Alternativen.

In der Bahn hängt übrigens ein noch älteres Exemplar aus. Er entspricht zwar nicht 100% der Realität, eignet sich aber dennoch ganz gut zur Orientierung.

Ein Nf-Gespann läuft ebenfalls auf.
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Beitrag von Entenfang »

Gerade, als ich eine andere Haltestelle um die Ecke aufsuchen will, an der wir heute Morgen mit der Marschrutka vorbeigefahren sind, geht das Licht wieder an und die Fahrerin winkt mir zu. Ich steige wieder ein und mit einem weiteren Fahrgast rumpeln wir um die Ecke. Nach 300 Metern kommen wir abermals zum Halten. Hmm, der Tatra da vorne sieht irgendwie komisch aus. Und da steht ein Turmwagen und ein paar Leute laufen geschäftig hin und her. Die Fahrerin steigt aus und ich weiß, dass ich heute nicht mehr mit der Tram zur Unterkunft zurückfahren werde.

Finde den Fehler:
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Der Stromabnehmer liegt seltsam verzogen auf dem Bürgersteig…

Also suche ich die nächste Bushaltestelle auf, natürlich gibt es auch hier überhaupt keine Infos zu Linienverläufen. Ein 41er kommt vorbei. Metro Pobeda? „Njet, njet“, meint eine Frau. Schade, eigentlich dachte ich doch, das wäre der richtige. (Anm.: Wäre er auch gewesen.) Ich warte dann trotzdem lieber ab. Sie schaut nach und meint, der 34er wäre Mittel der Wahl. Ich ahne schon, was jetzt kommen wird, denn während des Stromausfalls vorhin ist gerade ein 34er vorbeigefahren. Laut App kommt der nächste in 25 Minuten…
Marschrutka? Sie schaut nochmal nach, der 212er würde gehen. Der große Nachteil der Marschrutkas ist aber, dass man nie weiß, wann sie kommen. Da nähert sich die Buslinie 1, ich kann „Metro Moskovskaja“ auf der Linienverlaufstafel entziffern, weiß aber natürlich nicht sicher, ob die Haltestelle erst noch kommt oder schon war. Ich riskiere es mal und steige zusammen mit der Frau ein. Sie schaut mich fragend an und ich deute auf die entdeckte Haltestelle. „Da, da!“, meint sie schmunzelnd. Zwei Haltestellen weiter taucht der Metroeingang auf.

Zwei Wachmänner stehen bereit sowie eine Rolltreppenwächterin. Von den drei ziemlich kurzen Rolltreppen läuft eine nach oben, die mittlere ist ausgeschaltet und die rechte kaputt. Unten sitzt eine weitere Rolltreppenwächterin in ihrem Kabuff und starrt ausdruckslos die leere und kaputte Rolltreppe an.
Ich glaube, so eine leere U-Bahnstation habe ich noch nie gesehen.
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Die Treppe in Bahnsteigmitte wird vielleicht in ferner Zukunft irgendwann Umsteiger zur zweiten Linie bringen. Ich bezweifle allerdings, dass ich das noch erleben werde.

Nach 9:59 erlischt der Zeitzähler, offensichtlich ist ein Takt größer 10 Minuten bei diesen Uhren nicht vorgesehen. Zwei Minuten später rollt der ziemlich leere Zug ein.
Ostorožno, dveri zakryvajutsja! Rumms. Rumpelschepperschepperkadongkadong.

Die Station Pobeda gehört zum 1. Bauabschnitt, der 1987 eröffnet wurde.
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Beitrag von Oliver-BergamLaim »

Entenfang @ 11 Dec 2018, 21:16 hat geschrieben: Oder diese Rohre, die quer über das ganze Unigelände verlaufen und deren Isolierung wohl dem Wetter nicht standgehalten hat.
Das beste und für mich typisch Russische an dem Bild sind noch nichtmal die Rohre, sondern der Straßenname der Seitengasse: der lautet nämlich übersetzt schlicht "1. namenlose Gasse" :P
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Beitrag von Entenfang »

Tag 16 Samara

Heute soll meine verlorene Migrationskarte ersetzt werden. Deshalb werde ich um halb neun an der Rezeption erwartet. Kurz vor neun wird dann ein Auto mit Fahrer bereitgestellt, der mich und eine Mitarbeiterin der Uni zum zuständigen Amt bringen wird. Durch zähen Verkehr quälen wir uns eine Dreiviertelstunde durch die Stadt.
Wie in Russland üblich, sitzt am Eingang des Amtes ein Wachmann. Er wiegt deutlich über hundert Kilo, trägt Nadelstreifenanzug und ein weißes Hemd. Gelangweilt starrt er in die Luft. Im Hintergrund dudelt ein Radio vor sich hin. Auf dem Schreibtisch vor ihm liegt ein kariertes Schreibheft, in welches von Hand Zeilen und Spalten eingezeichnet wurden. Dort wird jeder Besucher samt Passnummer eingetragen. Außerdem gibt es einen Ständer mit vier Russlandfähnchen.

Nach drei Minuten werden wir hereingebeten. Deshalb muss der Wachmann gleich mal tätig werden und das Drehkreuz ins Gebäude freigeben. Die Uniangestellte füllt erstmal zwei Formulare auf Russisch aus. Anschließend muss ich Fingerabdrücke abgeben. Erstmal alle zusammen, dann nochmal jeden einzeln, dann nochmal gerollt, dann noch vom Handballen und die Hand von der Seite. Immerhin wird dafür kein Stempelkissen sondern ein Gerät benutzt.
Eine Mitreisende wird das später folgendermaßen kommentieren: „Ich glaube, du bist jetzt in einer russischen Datenbank, in der du nie sein wolltest.“
Ich denke, dass die Angelegenheit erledigt ist, als wir eine halbe Stunde später das Gebäude verlassen. Die Uniangestellte spricht leider so viel Deutsch wie ich Russisch und natürlich kein Englisch, gibt mir aber zu verstehen, dass wir eine Stunde warten müssen.

Sie schlägt einen Spaziergang zur Wolga vor. Beim heutigen Wetter macht das natürlich viel mehr Spaß als gestern Abend. Die Selfiespots wurden für die WM angelegt.
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Es gibt auch einen hübschen Park.
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Vasili-Capaev-Monument und Theater bei Tageslicht
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Spaziergang durch die Innenstadt:

Pinocchio
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Auch bei Tageslicht zeigen sich die schönen Ecken Samaras.
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Beitrag von Entenfang »

Auf den Stadtbuslinien werden meistens Kleinbusse aus belarussischer Produktion eingesetzt.
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Nicht mal eine echte Fußgängerzone fehlt.
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Bewunderung…
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Diese beeindruckende, überlebensgroße Bronzestatue steht ebenfalls in der Fußgängerzone.
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Und im Überblick:
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Oberleitungskreuzung zwischen Tram und Obus
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Etwa anderthalb Stunden später nehmen wir wieder im Eingangsbereich des Amtes Platz. Der Wachmann gähnt. Eine Viertelstunde vergeht.
Der Wachmann schaut sich ein Video auf seinem Handy an. Eine halbe Stunde vergeht.
Ein Schwall Angestellter verlässt das Gebäude. Es ist 12:01 Uhr. Einigen schüttelt der Wachmann die Hand.
Ein Drucker wird abtransportiert. Eine Dreiviertelstunde vergeht.
Ein PC-Bildschirm wird rausgetragen. Eine Stunde vergeht.
Eine Angestellte trägt geschäftig Papiere vom linken in den rechten Gang und wieder zurück. Eineinhalbstunden vergehen.
Zwei Männer kommen aus dem ersten Stock und gehen zum Ausgang. Als der Wachmann sie bemerkt, springt er sofort auf und bleibt stehen, bis sie draußen sind. Zwei Stunden vergehen.
Der Wachmann zieht Striche auf der nächsten Doppelseite, um die Tabelle zu verlängern.

Allmählich bekomme ich Hunger und ich schlage vor, beim Mittagessen auf die Mühlen der Bürokratie zu warten. Wir begeben uns in ein nahegelegenes Café und kaum haben wir bestellt, ruft jemand die Uniangestellte an und teilt mit, dass meine Migrationskarte fertig ist.
Oh yeah, ich halte diesen unnötigen Fetzen Papier wieder in der Hand… Sollte jemand mal vorgehabt haben, seine Migrationskarte zu verlieren: Ich würde davon abraten.

Nachmittags können wir in (wirklich) entspannter Runde mit Studenten kommunizieren, die Deutsch lernen. Dazu gibt es Tee und Weihnachtsgebäck vom letzten Jahr.
Einige trauen sich nicht so recht, mit uns Deutsch zu sprechen und lassen lieber die Lehrerinnen oder den Dolmetscher vor oder schauen alles auf Google Übersetzer nach. Auf der anderen Seite haben die Lehrerinnen nicht besonders viel Geduld und schreiten sofort ein, wenn die Studenten nicht schnell genug antworten.
So wie ich es verstanden habe, können sie sich gar nicht aussuchen, ob sie Deutsch oder Englisch lernen wollen.
Zum Abschluss drückt uns der Dolmetscher noch eine Packung Lebkuchen in die Hand. Die müssten endlich mal weg.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 17 Samara

Reihum ging die Erkältung, jetzt bin ich dran. Nachdem ich mich ausgeruht habe, nehme ich eine klapprige Marschrutka Richtung Bahnhof. Der Preis ist identisch mit dem restlichen ÖPNV, nur werden hier die Smartcards nicht akzeptiert.
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Blick auf den Bahnhofsvorplatz
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Wir bekommen eine Führung im sehr übersichtlichen Eisenbahnmuseum, das sich versteckt im Untergeschoss des Bahnhofsgebäudes befindet. Baustellenlärm erfüllt das Gebäude. Nicht endende Ansagen zu machen, obwohl nur alle halbe Stunde mal ein Zug verkehrt, ist eine Kunst, welche die RŽD erstklassig beherrscht.

Historisches Stellwerk
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Token-Maschine zur Sicherung eingleisiger Strecken
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Anschließend steht eine kleine Obusfahrt auf dem Plan.
Die Nf-Fahrzeuge aus belarussischer Produktion wollen wir eigentlich nicht so gern…
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…sowas schon eher!
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Fahrerarbeitsplatz
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Fahrzeugparade
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Wir witzeln, dass die verrosteten Kisten nur noch durch die Werbung zusammengehalten werden…

Am Platz der Revolution steigen wir aus.
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Beitrag von Entenfang »

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Nun ist es nicht mehr weit bis zur Fußgängerzone.
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Welch ein Wunder, dass man hier wirklich so gepflastert hat, dass die Fußgänger eindeutig Vorrang vor der Querstraße haben!
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T3-Gespann an der Leningrader Straße
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In Gegenrichtung ist ein T6 unterwegs.
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Der Gleiszustand im Detail.
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Im Großen und Ganzen war ich sogar positiv überrascht, denn die Gleise sind längst nicht in einem so katastrophalen Zustand wie z.B. in Kharkiv.


Kurzer Spaziergang durch die Straßen, in denen es kleine, schiefe Häuser gibt.
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Beitrag von Entenfang »

Neuwagen aus russischer Produktion an der ulice Frunze
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Nach dem Abendessen starte ich einen neuen Anlauf, mit der Tramlinie 3 zurückzufahren. Die gleiche Fahrerin wie vorgestern ist im Dienst und bringt mich dieses Mal störungsfrei durch die Stadt. Ich beobachte, dass die massive Führerraumtüre offensichtlich einen wesentlichen Nachteil hat – sie schränkt die Sicht in den toten Winkel ein. Zumindest öffnet die Fahrerin sie immer wieder mal beim Rechtsabbiegen und wirft einen Blick nach hinten.
Alle Weichen müssen per Hand gestellt werden, was zusammen mit den vielen Las die Reisegeschwindigkeit senkt. Außerdem erfolgt der Ausstieg straßenbündiger Haltestellen stets ungesichert auf die Fahrbahn, was beim russischen Fahrstil nicht unkritisch ist. Zudem habe ich den Eindruck, dass es an einigen Stellen keinen wirklichen Schutz der Spurrille gibt. Rillenschienen sind hier nahezu unbekannt, aber ich kann auch keinen Abstandshalter zum angrenzenden Asphalt entdecken. Davon habe ich zwar keine passende Aufnahme, aber hier sieht man das Problem:
https://goo.gl/maps/8ntu7v8tWqE2

Und für eine Totalkatastrophe halte ich diese Stelle – ich nenne sie mal den unechten besonderen Bahnkörper. Hier wird eine Sicherheit vorgekaukelt, die es nicht gibt und es lädt den MIV ein, das Lichtraumprofil der Tram zu befahren.


Ein paar Worte zu Besonderheiten der LSA-Steuerung, die mir in Samara aufgefallen sind:
Die Umlaufzeiten sind relativ kurz (60…80 s), sodass man keine besonders langen Wartezeiten hat. Freilich trifft das nur zu, wenn gerade kein Stau ist. Die Tram fährt aber relativ oft auf besonderem Bahnkörper, sodass es sich um einen Vorteil handelt.
Nun stellt man sich vielleicht die Frage, wie ist es denn überhaupt möglich, auf großen Kreuzungen so kurze Umlaufzeiten zu erreichen. Zum Vergleich: In Dresden werden die meisten Hauptstraßen in der HVZ mit 120 s Umlaufzeit geschaltet.
Des Rätsels Lösung ist auf diesem Bild sehr schön zu erkennen.

Es gibt in Samara generell keine separate Phase für gesichertes Linksabbiegen (=2-Phasen-Schaltung). Hier im Beispiel sogar noch mit Tram… Bei uns am häufigsten dürfte die 3-Phasen-Schaltung sein, bei der zumindest die Hauptstraße eine eigene Linksabbiegerphase bekommt.

Mehr Infos dazu hier.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 18 Samara

Ich gehe den Tag gemütlich an.

So sieht eine attraktive Haltestellengestaltung aus:
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Sieht man in der Ferne die Tram, kann man schon mal anfangen, eine passende Lücke zu suchen, um irgendwie unfallfrei die vier Fahrstreifen überqueren zu können.

Ich wollte auch mal wieder die Diskussion von hier aufgreifen und ein weiteres Beispiel für meine Abneigung gegen Fußgängerunterführungen bringen.

Diese Kreuzung hat keine oberirdische Querungsmöglichkeit.
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Man muss die Unterführung benutzen, die gleichzeitig als Zugangsbauwerk zur Metro dient. Dabei gibt es zwei Haken. Der erste: Möchte man aus der Position im Bild geradeaus die Straße überqueren, muss man unterirdisch einmal um die komplette Kreuzung laufen. Denn von den vier Verbindungen sind unterirdisch nur drei vorhanden. Deswegen hätte ich beinahe die Tram verpasst.
Ganz anders kann die Nutzung von Unterführungen z.B. in der Ukraine aussehen: nur an vielbelebten Stellen und Kreuzungen, ohne alternativ mögliche oberirdische Querung, und mit vielen Geschäften, Kiosken und Straßenmusikern den ganzen Tag voller Leben.
Und auch dazu noch ein Praxisbeispiel. Tagsüber sind die Geschäfte geöffnet und viele Passanten sorgen für Leben. Sieht dann so aus:
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Aber wie sicher fühlt man sich spätabends?
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Das wirkt schon ganz anders.

Was aber dem Fass den Boden ausschlägt: Diese Unterführung ist nur während der Betriebszeiten der Metro von 6 bis 24 Uhr geöffnet, danach werden die Zugänge abgesperrt. Nachts ist man also gezwungen, über mehrere Geländer zu klettern und die riesige Kreuzung oberirdisch zu überqueren.

Für dieses Beispiel der Stadtplanung, die für den Menschen nicht gedacht ist, darf ich doch den Entenfangschen Preis für die autogerechte Stadt verleihen. Herzlichen Glückwunsch!


Mit der Ringlinie 4 geht es durch Plattenbauten, aber auch einige grüne Abschnitte, Richtung Innenstadt. Warum die Gegenrichtung als Linie 23 bezeichnet wird, dürfte wohl ein ungelöstes Mysterium sein.
Im T3 ist es wie in der Sauna, weil die Heizung trotz des warmen Tages auf maximaler Leistung läuft. Da kommt die kurze Pause unterwegs ganz recht – der konstruierte Endpunkt der Ringlinie.
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Extrem abgefahrene Weiche
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Nach wenigen Minuten nähert sich die Fahrerin wieder vom Pausenhäuschen und ich steige wieder ein.

Was man in Samara vielleicht am allerwenigsten erwartet, ist ein ziemlich ausgedehntes Viertel mit alten Holzhäusern. Das Haus im Bild ist wirklich so schief – da dürfte der Komfort im Neubau dahinter wesentlich höher sein.
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Bald kommt ein Bus…
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…gefolgt von der Tram.
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Beitrag von Entenfang »

Kurzer Blick in den versteckten Hinterhof…
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…dann fahren wir schon weiter.
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Theater am Kujbyschev-Platz
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Weil die Tram oftmals sehr langsam unterwegs ist, wird manches Foto dann unerwartet doch nichts, obwohl die Straße zuvor noch bis zum Horizont frei war.
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Kleines Schlösschen
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Kunst
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Mittagessen gibt es in der bereits bekannten Stolovaya.
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Dafür habe ich rund 4€ bezahlt. Das knusprig geröstete Schwarzbrot mit viel Knoblauch gehört definitiv zu meinen kulinarischen Highlights in Russland.

Pause am Wolgaufer
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Generationenwechsel im Busverkehr
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Beitrag von Entenfang »

Heute möchte ich die Obuslinie 6 unsicher machen. Na sowas, eine LED-Anzeige!
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Der Obus ist sehr gut gefüllt, während wir die Altstadt mit ihrem rasterförmigen Straßenlayout verlassen und schließlich die Samara überqueren.
Überall gibt es großformatige Werbung für die Fußball-WM. Sie muss ein unglaublich wichtiges Event für Russland gewesen sein.
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Bald führt die Überlandlinie durch Brachflächen und Sumpfgebiet.
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Es folgen ein paar Plattenbauten, dann wieder kleine Holzhäuser im Grünen.
Schließlich fährt der Obus durch eine Vorstadt, die wieder dichter bebaut ist und wo sich die Häuser, Straßen und Fußwege in deutlich schlechterem Zustand als in der Kernstadt befinden. Der Verkehr geht nochmals chaotischer zu und die Straßen sind vermüllt.
Komplett leer wird der Obus nicht, denn er wendet in einer riesigen Häuserblockschleife, in der bereits wieder Fahrgäste Richtung Innenstadt zusteigen. Die Linie wird bis zu einer Ölraffinerie geführt. Dort steigen zahlreiche Fahrgäste zu, um in ihren wohlverdienten Feierabend zu fahren.
Ich möchte die Vorstadtatmosphäre fotografisch einfangen und habe bereits auf der Hinfahrt eine geeignete Stelle ausgemacht. Vieles deutet darauf hin, dass mein Motiv nicht funktionieren wird. Denn die staubige Fläche dient gleichzeitig als Parkplatz für den Grillstand, die Autowerkstatt und irgendwelche anderen Gebäude, deren Zweck mir nicht klar wird.
Und während ich auf den nächsten Obus warte, rollen unzählige Marschrutkas vorbei.
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Die Stelle wird mehrfach zugeparkt und wieder freigefahren und manch einer schaut mich etwas komisch an. Zwei Nf-Obusse fahren stadteinwärts, nur stadtauswärts will einfach keiner kommen.
Nach über 20 Minuten gelingt mir dann endlich die erfolgreiche Umsetzung.
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Ich ahne schon, dass wir auf die Rückkehr dieses Kurses warten müssen und dass er bestimmt sehr voll sein wird. Die Auswahl an Marschrutkas ist ja ziemlich groß, aber welche können wir nehmen, um zurück in die Stadt zu fahren?
Leider ist die Information an der Haltestelle sehr dürftig. Wir versuchen es mit der 66, die im dichten Takt verkehrt. Doch an der entscheidenden Kreuzung nimmt sie die falsche Richtung und wir steigen schnell wieder aus.
Neuer Versuch. „Da, der 48d ist doch vorhin auch dort vorbeigefahren, wo wir eingestiegen sind!“, ruft eine Mitreisende.
Tatsache, das richtige Ziel steht auch drauf.

Zeit für eine Kaffeepause.
1075 an der ulice Frunze
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Nur selten sieht man die 71-623-Wagen in Samara, welche in zahlreichen weiteren russischen Städten eingesetzt werden.
Bild

Für die Rückfahrt können wir zwischen Marschrutka, Bus und Tram wählen und beschließen, das zu nehmen, was zuerst kommt. Es ist ein T3.
Die sehr geringen Fahrgastzahlen und Ansagen an jeder Haltestelle sind ziemlich verdächtig. Ich verstehe nur was von „Depo“. Auf halbem Weg liegt der Btf und ich bin gar nicht mehr überrascht, wieder dort zu landen, wo ich bereits drei Tage zuvor gestrandet bin.
Nur eine Minute später kommt auch schon ein Bus. Hurra, ein 41er. Grmpf, ein sehr, sehr voller 41er. Oh, dahinter ist ja noch eine 41, zwar auch voll, aber man kann noch einsteigen. Oh, und noch ein dritter, ziemlich leerer. Letzteren nehmen wir und lassen uns gemütlich im angenehm beheizten Fahrzeug befördern, während es im T3 eiskalt war. Es sind ohne Zweifel gute Gründe erkennbar, warum die Straßenbahn kein besonders beliebtes Verkehrsmittel ist.
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Beitrag von Entenfang »

Tag 19 Samara

Der Geburtstagskuchen eines Mitreisenden wird folgendermaßen kommentiert: „Es ist ein russischer Kuchen. Der besteht zu 1000% aus Sahne, die restlichen 100% sind Zucker.“ Und das ist zutreffend…


Ich war schon kurz davor, in den Reisebericht zu schreiben, dass es heute wegen meiner Erkältung kein Bild mehr gibt. Aber dann habe ich mir gedacht, das Abendessen fliegt nicht von alleine ins Haus und außerdem kann ja nicht sein, was nicht sein darf. Also los zur Bushaltestelle.

Als die Marschrutka nach wenigen Minuten kommt, deutet zunächst vieles darauf hin, dass ich mir um meine Erkältung keine Gedanken mehr machen muss, weil ich die Marschrutkafahrt ohnehin nicht überleben werde.
Während der Fahrt verkauft der Fahrer Fahrkarten, zählt Geld und telefoniert und manchmal macht er all diese Aktivitäten zur selben Zeit. Es gibt keine Haltegriffe, an denen ich mich festhalten kann und weil alle Sitzplätze belegt sind, muss ich versuchen, irgendwie standhaft zu bleiben.

Doch man glaubt es kaum, ich erreiche unfallfrei die gewünschte Stelle.

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Ist das jetzt das Hexenhaus aus den Grimmschen Märchen?
Knapp vorbei.

Es handelt sich um eine Bremskontrollstelle für die Straßenbahn. Jeder stadtauswärtige Zug muss hier (mitten auf einer vierstreifigen Straße) stehenbleiben und sich einer kurzen Kontrolle unterziehen lassen.
Bild

Der Mitarbeiter kommt aus dem Häuschen, umrundet einmal die Tram und entfernt den Hemmschuh, ehe er der Fahrerin die Erlaubnis zur Weiterfahrt gibt. Ganz unsinnig ist das nicht, denn es folgt ein längerer Gefälleabschnitt. Warum die Kontrolle allerdings nicht einfach 300 m vorher an der Haltestelle durchgeführt wird, entzieht sich meiner Kenntnis.

Ein T6 bringt mich zurück. Das Stöhnen passt irgendwie zu meinem Gesundheitszustand.
Klackklack. Relais für den Blinker rechts.
Rumpelrumpel.
Klackklack. Relais für den Blinker links.

1094 bei Pobeda
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Beitrag von Entenfang »

Tag 20 Samara -> München

Mit dem Taxi fahre ich zum Flughafen. Es ist ein nebliger Morgen, doch bald kommt die Sonne durch und die Tatras rumpeln strahlend durch die Stadt. Auch vor einer anderen Gefällestrecke gibt es eine Bremskontrolle und hier findet sie in der Haltestelle statt.
Plattenbauten folgen auf Plattenbauten. Allmählich wird die Bebauung lockerer. Autos und Marschrutkas legen waghalsige Manöver hin. Schnellstraßenartig führt die Route aus der Stadt, die LSA-Umlaufzeiten betragen hier oft 240 s. Ziemlich gefährlich ist die schnurgerade Trassierung bei erheblicher Längsneigung – sie lädt geradezu zum Rasen ein und bei dem Abstand, den die Fahrer halten, muss es hier oft krachen.
Nach einer Dreiviertelstunde endet die Bebauung endgültig. Herbstwald und Gewässer ziehen vorbei. Nach etwa einer Stunde bin ich am Flughafen.
Es gibt auch eine S-Bahn, nur ist sie ein wunderbares Beispiel für gut gedacht, schlecht gemacht. Sie verkehrt nur 4x täglich und außerdem hat man den Bahnsteig am Flughafen in rund einem Kilometer Entfernung zum Terminal errichtet, während man mit dem Auto direkt bis zum Eingang fahren kann.

Nach nur 25 Minuten stehe ich schon am Gate. Unspektakulär und pünktlich verläuft der Flug nach Moskau.
Am Flughafen Sheremetyevo verkehrt zwischen Terminal 1 und 2 eine Standseilbahn.
Bild

Bild

Ein weiterer unspektakulärer und pünktlicher Flug bringt mich zurück in die Heimat.


Fazit

In Minsk hat sich in den letzten zwei Jahren wenig verändert. Sprachprobleme, fußgängerunfreundlich, diktatorisch. Alles beim Alten. Während des Djen Tankista (Tag des Panzerfahrers) können Kinder (selbstverständlich echte) Waffen zerlegen und Fotos machen, während sie auf ihre Eltern zielen. Das ganze Event ist sponsored by Burgerking, was sich durch den aus Burgerking-Schachteln aufgebauten Panzer bemerkbar macht. Das Land steckt irgendwo zwischen Sowjetrelikten, moderner Diktatur und Kapitalismus fest.

Riga hat mir als Stadt sehr gut gefallen. Es ist eine lebendige Stadt mit großen Parks, die zum Verweilen einladen. Leider ist das Flussufer nicht sehr gemütlich.
Die Modernisierung der Bus- und Obusflotte ist weit vorangeschritten, bei der Tram ist das Gegenteil der Fall. Die Tatras stellen den größten Teil der Flotte und der Einstieg erfolgt oft von Straßenniveau. DFI sucht man vergeblich. Die modernen Fahrzeuge sind klimatisiert und mit Fahrkartenautomaten ausgestattet, dafür leider mit Vollwerbung verunstaltet. Wohl durchdacht ist die Position der Entwerter, nämlich nicht direkt am Einstiegsbereich. So lockt man die Fahrgäste weiter in den Innenraum und verhindert gleichzeitig einen Stau in der Tür.

Irgendwie war für mich eine Reise nach Russland nur eine logische Konsequenz – ich wurde schon sehr oft gefragt, ob ich schon mal dort gewesen wäre. Nun kann ich das endlich bejahen und habe drei Städte mit sehr unterschiedlichem Charakter gesehen. St. Petersburg wurde mir als schönste russische Stadt angepriesen – im Zentrum ist das ohne Zweifel zutreffend. An Prunk und Protz sind die breiten Prospekte nicht zu überbieten. Der dreitägige Aufenthalt hat bei Weitem nicht ausgereicht, um einen umfangreichen Blick auf verschiedene Ecken der Stadt zu werfen und auch noch diverse Museen zu besuchen. Auch in Moskau war der Einblick sehr kurz, was nicht zuletzt daran lag, dass wir mit dem Besuch des Fernsehturms einen halben Tag beschäftigt waren. Samara ist deutlich sehenswerter, als ich mir die Stadt vorgestellt habe. Sie besteht mitnichten nur aus Plattenbauten und verfallener Industrie, sondern auch aus Stadtparks, Flaniermeilen und Holzhäusern. Eines ist jedoch klar – die Unterschiede der drei Städte sind außerhalb des Zentrums kaum erkennbar. Am Stadtrand ziehen sich die immergleichen Plattenbauviertel bis in alle Ewigkeit.
Ziemlich auffallend finde ich die Trennung der Bevölkerungsschichten – zwischen Prunk und Protz auf der einen Seite und den heruntergekommenen Plattenbauten auf der anderen Seite gibt es wenig dazwischen. In Samara fällt der Kontrast zwischen klapprigen Ladas und wuchtigen SUVs auf.
Überhaupt scheint das Auto zumindest in Samara einen höheren Stellenwert bei jungen Menschen zu haben als bei uns. Im Studentenwohnheim gibt es 4-Bett-Zimmer, aber Hauptsache mit dem Auto bei vollständig heruntergekurbelten Scheiben mit dröhnender Musik und Kavalierstart vorfahren.

Rauchen ist in Russland viel weiterverbreitet als bei uns. Das merkt man nicht zuletzt daran, dass es in Russland großflächige Werbeplakate für Zigaretten gibt. Klar, die gibt es in Deutschland auch – übrigens das einzige Land in der gesamten EU! Zumindest existieren in Russland Versuche, Rauchverbote flächendeckender umzusetzen. In den Zügen hapert es noch sehr an der Durchsetzung.
Auch Alkoholmissbrauch soll eingedämmt werden, mit mäßigem Erfolg, würde ich sagen… Weder im Hostel in Minsk noch in den Nachtzügen wurde das bestehende Verbot auch nur ansatzweise durchgesetzt.

Das russische Essen ist abwechslungsreicher als zunächst befürchtet. Für mich bleibt Belarus ganz klar der kulinarische Tiefpunkt, vor allem im Hinblick auf Abwechslung.
Die in Russland häufig (in Moskau weniger häufig) anzutreffenden Stolovayas bieten eine gute Gelegenheit für ein schnelles und günstiges Essen. Abseits des Zentrums darf man nicht erwarten, englische Erläuterungen und/oder des Englischen mächtigen Mitarbeiter zu finden. Da ist es natürlich sehr von Vorteil, dass man die Speisen vor sich sieht und einfach draufzeigen kann. Auf Dauer fehlt mir die Abwechslung, denn das Angebot der Stolovayas ähnelt sich doch sehr stark.

In Russland leider sehr wenig verbreitet sind Englischkenntnisse – genau wie in Belarus. Auf Fremdsprachenausbildung wird im flächengrößten Land der Erde offensichtlich wenig Wert gelegt. Anhand der besichtigten Unis scheint der Fokus eher auf Religion und vor allem Sport zu liegen. In Samara können selbst viele junge Menschen kein einziges Wort Englisch.

Rund einen Monat nach meiner Rückkehr aus Russland wurde meine Kreditkarte gesperrt, weil es drei Anfragen gab, die den Algorithmen der Bank glücklicherweise nicht gefallen haben. Auch einem Mitreisenden wurde noch während der Reise die Kreditkarte gesperrt – an der Warnung vor manipulierten Geldautomaten in Russland scheint wohl etwas dran zu sein.

Zum Verkehr in Russland lässt sich gleich zu Beginn sagen, dass meine Klischees spätestens in Samara hinlänglich erfüllt werden. Während in St. Petersburg und Moskau sehr viele moderne und teure Autos fahren (damit meine ich nicht die HVZ, da stehen sie nämlich auf sehr vielen Fahrstreifen im Stau), gibt es in Samara dann die erwarteten klapprigen Ladas, die beim Anfahren eine beträchtliche Rußwolke zurücklassen. Die Fahrkünste der Russen sind genauso schlecht, wie es aufgrund der zahlreichen Car Crash Compilation Videos auf Youtube zu vermuten ist. Unaufmerksam, chaotisch, weder umsichtig noch defensiv – das sind die Adjektive, die mit Sicherheit auf eine große Mehrheit der russischen Kraftfahrer zutrifft. Hier zeigen sich zwei wesentliche Unterschiede zu Minsk – die Motorisierung ist dort nicht so hoch, folglich sind die Staus in der HVZ überschaubarer und die Fahrkünste wesentlich besser.

Der ÖPNV in Russland ist in vielerlei Hinsicht in einem ziemlich bemitleidenswerten Zustand. Gerade bei der Straßenbahn steckt die Erneuerung des Fahrzeugparks noch ganz am Anfang. Im Bus- und Marschrutkasektor sieht es schon etwas besser aus. In Samara macht sich die geringe Automatisierung vor allem durch die fehlenden Weichenantriebe bemerkbar, DFI sucht man jedoch in allen drei Städten meistens vergeblich. In Moskau ist die Modernisierung des Fahrzeugparks sowie die Ausstattung mit DFI mit Abstand am weitesten fortgeschritten. Ich kann mir aber mal wieder den Hinweis auf den Unsinn bei der Umsetzung von Elektromobilität nicht verkneifen. Seit letztem Jahr gibt es in Moskau Akkubusse aus russischer Produktion im Einsatz. Da frage ich mich schon, warum man nicht einen Obus von der Stange kauft und auf den zahlreichen Linienwegen einsetzt, wo sogar noch die Fahrleitung hängt, aber derzeit nicht genutzt wird… Gerade im russischen Winter stelle ich mir die Alltagstauglichkeit eines Akkubusses sehr gering vor.
Obus und Tram kommen gerade in Samara verglichen mit Bus und Marschrutka vergleichsweise selten und unregelmäßig und sind dementsprechend unattraktiv. Auch die wiederbelebte Linie 3 in St. Petersburg konnte uns absolut nicht überzeugen. Und wo es Busspuren gibt, sind diese oft hoffnungslos zugeparkt, weil für die vielen, großen Autos schlichtweg nirgendwo Parkplätze vorhanden sind. Die Voraussetzungen für einen attraktiven ÖPNV sind in Russland ziemlich schlecht – leider. Auch wenn es in Moskau erste zaghafte Ansätze im Vorfeld der WM gab, Parkplätze zu Aufenthaltsflächen umzugestalten, ist man von einer fußgängergerechten Stadt noch Lichtjahre entfernt. Und von Fahrradinfrastruktur reden wir lieber gar nicht. Den Platz dafür würde es auf den breiten Prospekten jedenfalls geben. Bei meinem nächsten Besuch in Russland würde ich mir auf jeden Fall eine Simkarte zulegen, denn die in der Yandex Transport App hinterlegte Live-Position der unregelmäßig verkehrenden Fahrzeuge ist auf jeden Fall eine große Hilfe.
Eigentlich gibt es in Moskau und St. Petersburg gerade während der HVZ nur ein einziges sinnvolles Verkehrsmittel – und das ist die Metro. Dass man auf der Rolltreppe auf dem Weg zum Bahnsteig zwei Züge verpasst, entspricht übrigens der Wahrheit. Möchte man verlässlich und schnell ans Ziel, führt kein Weg an der Metro vorbei. Das hat übrigens auch das russische Pendant zu Lieferando erkannt. Deren Kuriere sind mit Cityroller und Metro unterwegs.


Alle Netzpläne im Überblick

Minsk
http://transphoto.ru/photo/651209/?gid=231

Riga
http://transphoto.ru/photo/1127917/?gid=1351

St. Petersburg Gesamtverkehr
http://transportmap.ru/transport-spb_en.html
Metro
http://www.metro.spb.ru/uploads/img/map/me...8_1700x2431.jpg
Tram
https://transphoto.ru/photo/1091634/?gid=222
Obus
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/comm..._System_Map.svg

Moskau
Metro
http://news.metro.ru/18/mm20180830.jpg
Tram
http://none.ru/files/mostram_map.pdf
Obus
https://transphoto.ru/photo/1149735/?gid=232


Samara
http://transphoto.ru/photo/877416/?gid=510



Statistik

Gefahrene Bahnkm.......................4390
Planmäßige Gesamtreisezeit..........70h 36 min.
Gesamtverspätung (analog FGR)...0 min.
Durchschnittsgeschwindigkeit.........62 km/h
Fahrtkosten Bahn..........................4,1 Cent/km
Langsamste Etappe......................Warschau – Brest: 50,6 km/h

Fahrtkosten
Flug...................................174€
Bahn..................................181€
ÖPNV inkl. Marschrutkas.....41€
Taxi....................................12€
_______________________
.........................................408€
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Beitrag von Russischer Spion »

Entenfang @ 16 Dec 2018, 15:26 hat geschrieben:Anhand der besichtigten Unis scheint der Fokus eher auf Religion und vor allem Sport zu liege.
:o Ist mir was neues.
-
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Beitrag von 146225 »

Und ich sage abschließend nochmals vielen Dank an Entenfang für die Mühe und fürs Teilen, ich habe alle Teile des Berichts gerne und mit Interesse gelesen. :)
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Wildwechsel
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Beitrag von Wildwechsel »

Entenfang @ 5 Dec 2018, 20:55 hat geschrieben: Ich fand Riga erstaunlich teuer. Was ist denn dein Eindruck davon und ist das in anderen Orten Lettlands auch so?
Ich war im Sommer 2015 im Zuge einer Baltikum-Rundreise unter anderem auch 1 Nacht in Sigulda (ca. 50 km östlich von Riga), und dort im Supermarkt ist mir auch aufgefallen, dass die Preise, insbesondere die Lebensmittelpreise, in Lettland deutlich höher sind als hier in München.
Beste Grüße usw....
Christian


Die drei Grundsätze der öffentlichen Verwaltung in Bayern:
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2. Wo kamat ma denn da hi
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Beitrag von Russischer Spion »

-
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Beitrag von Oliver-BergamLaim »

Ein inhaltlich völlig belangloser und schwacher Artikel, der von vornherein auf Bashing des Ziellandes aus zu schein seint. Soll der Autor beim nächsten Mal ruhig wieder seinen "normalen" Urlaub machen, irgendwo auf Mallorca oder in Italien mit den Horden, da bekommt er dann auch seine Speisekarte auf deutsch. Aber bloß nicht in Griechenland, da ist die Schrift auch wieder eine andere. Die kyrillische Schrift hätte er sich übrigens im Selbststudium an ein paar Abenden selbst beibringen können, wenn er wirklich Interesse an seinem Reiseziel gehabt hätte, so schwer ist die gar nicht, zumal einige Buchstaben eh identisch mit den lateinischen sind. Hoffentlich landet er nie in Thailand, Georgien oder Japan... die Schriften sind nicht so schnell und leicht gelernt wie kyrillisch.

Und warum es jetzt ein Nachteil sein soll, wenn im öffentlichen Straßenbild keine Leute mit bunten Haaren, Althippies oder Biker zu sehen sind... die gibt's zum Beispiel in München auch nicht, und ich vermisse das jetzt auch nicht unbedingt. Vielleicht ein bisschen zu sehr Berlin-fokussiert, das Denken des Autors. Dann vielleicht lieber einfach doch daheim bleiben oder pauschal Kanaren buchen.

Da lese ich viel lieber die Reiseberichte von Entenfang, der nun wirklich auch nicht alles an seinen besuchten Orten verklärt oder toll findet, aber sich ein wirkliches Bild von den besuchten Orten macht und weitaus dezidierter auf die dortige Realität blickt als das Geschreibsel, was sich bei NEON ernsthaft "Journalismus" nennt.
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Beitrag von JeDi »

Ich fand Minsk auch ziemlich cool - und irgendwie ist Onkel Alex inzwischen auch der seriöseste und sympathischste Präsident östlich Berlins.
146225
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Beitrag von 146225 »

Oliver-BergamLaim @ 22 Jan 2019, 12:07 hat geschrieben: Ein inhaltlich völlig belangloser und schwacher Artikel, der von vornherein auf Bashing des Ziellandes aus zu schein seint. Soll der Autor beim nächsten Mal ruhig wieder seinen "normalen" Urlaub machen, irgendwo auf Mallorca oder in Italien mit den Horden [...]
Auch wenn ich Dir inhaltlich insgesamt schon recht geben muss und auch nix von pauschalen Abwertungen, denke ich dass du hier selber ein bisschen in die gleiche Richtung abdriftest. Natürlich ist klar, was du meinst und fairerweise sollten tatsächlich Pauschaltourismus mit Billigfliegern und Saufexzessen nicht unerwähnt bleiben. Andererseits denke aber dennoch, dass man selbst auf der großen, teutonisch-englisch belagerten Baleareninsel und ganz sicher in dem großen Land zwischen Alpen und Sizilien auch "zivilisiert" mit und bei Land und Leuten auf menschliche und vernünftige Art machen kann. Genauso wie man in Belarus nicht sofort bemerken muss, dass es sich um eine Diktatur handelt, es aber durchaus kann - die berühmten 2 Seiten derselben Medaille.

Warum Russischer Spion hier mediale Inhalte bringt, die eher geeignet sind, Belarus tendenziell abzuwerten scheint mir halbwegs klar zu sein: es verdichten sich ja die Anzeichen, dass der "glorreichste russische Präsident aller Zeiten" zwecks Unterstreichung der eigenen Ewigkeits-Machtgelüste geneigt sein könnte, auch in dieses Nachbarland, ganz freundschaftlich, versteht sich, mal grüne Männchen auf "Urlaub" hinzuschicken. Da muss die Propagandakompanie doch schon mal vorlegen.
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Beitrag von Entenfang »

Ein inhaltlich völlig belangloser und schwacher Artikel, der von vornherein auf Bashing des Ziellandes aus zu schein seint.
Naja, nachdem mir ja hierzuforum schon ein Faible für autoritäre Staaten unterstellt wurde, finde ich es völlig in Ordnung, auch mal einen sehr kritischen Artikel zu diskutieren.


Und ich kann schon verstehen, wie der Autor zur seiner Meinung kommt.

Ohne Kyrillischkenntnisse findet man sich kaum zurecht und fragen kann man ohne Russischkenntnisse auch niemanden. Also doch, man kann, nur derjenige wird es höchstwahrscheinlich nicht verstehen. ;)
Das in Kombination mit einer falschen Erwartungshaltung ("normaler Urlaub") kann einem dann ziemlich schnell die Freude verderben. Und wenn man dann vielleicht die offene, herzliche Mentalität Italiens gewohnt ist, hat man in Belarus wahrlich keinen Spaß.


Aber für einen Auslandsredaktuer ist der Mann wirklich sehr schlecht informiert gewesen, wenn er ohne Krankenversicherung einreisen wollte. Das steht doch beim Auswärtigen Amt. Und wenn er doch nach eigenen Angaben in die "große weite Welt" will, dann frage ich mich schon, ob er noch nie in einem Land war, in dem er die Sprache/Schrift nicht verstanden hat. Dann hat er nur einen sehr kleinen Teil der großen, weiten Welt gesehen...

Und dass Belarus nichts herstellt, was die Welt haben will, ist einfach falsch. Dort werden schließlich Traktoren und Busse gebaut, die zwar vielleicht nicht in Deutschland eingesetzt werden, wohl aber in anderen Ländern Osteuropas. Und auch die chinesischen Hinweise am Flughafen lassen sich erklären, denn Belarus wittert Einkünfte als Teil der neuen Seidenstraße zwischen China und Deutschland.

Manche Passagen standen dagegen sinngemäß fast identisch in meinem Reisebericht von meinem 1. Besuch in Belarus 2016.
Aus dem Neon-Artikel:
Zeichen von Eigensinn oder Aufmüpfigkeit sind selten in diesem Land, in dem Gleichförmigkeit das Straßenbild bestimmt. So gut wie nie sind Menschen mit bunten Haaren zu sehen oder in Skater-Klamotten, auch keine Althippies oder Biker, keine dunkelbraun getoasteten Senioren, keine Piercings und Tattoos. Es gibt auch so gut wie keine Schwarzen oder Menschen mit orientalischer Herkunft - nur eine unauffällige, ruhig-graue Masse.
Aus meinem Reisebericht:
Nach der Ankunft in Polen, besonders aber in Berlin ist mir aufgefallen, wie eintönig und langweilig die belarussische Gesellschaft gewirkt hat. Während bei uns selbstverständlich Einflüsse verschiedenster Kulturen zu sehen sind, fehlen meiner Meinung nach in Belarus derartige Impulse vollständig.
Ja, die Menschen dort wirken auf den Autor vielleicht abweisend. Aber vielleicht würde sich ein Belarusse in Berlin auch nicht so wohl fühlen, wenn er dort auf Schritt und Tritt angebettelt, um eine Unterschrft für irgendwas gebeten wird oder in die nächste Tourifalle gelockt werden will.


Auch wenn ich längst nicht allem zustimmen kann, ist Belarus ganz sicher nicht für jedermann das geeignete Reiseland. Und ein paar Vorteile gibt es dort schon auch, die hätte man ja wenigstens erwähnen können. Verglichen mit "nomalem" Urlaub dürfte Belarus ziemlich billig sein und im Gegensatz zu Paris oder Rom muss man im Weltkriegsmuseum Great Patriotic War Museum weder eine Stunde anstehen noch sich mit 10000000 anderen selfiestickfuchtelnden Touris abgeben.
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Beitrag von karhu »

Entenfang @ 5 Dec 2018, 20:55 hat geschrieben: Mit dem Bus fahre ich weiter. Wozu dieser Hochsitz dient, ist mir jedoch nicht klar geworden.
Bild

Die Frage kann ich dir jetzt beantworten. Vermutlich gab es in Riga auch mal Schaffner im Bus. In Daugavpils ist das noch so. Der Schaffnerplatz ist erhöht um überblicken zu können wer neu eingestiegen ist um dann Fahrkarten zu verkaufen oder zu kontrollieren.
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Beitrag von Entenfang »

Ah, das klingt natürlich plausibel. :)
Mein Bahnjahr 2023
Zurückgelegte Strecke: 28.430 km - Planmäßige Gesamtreisezeit: 18,3 Tage - Gesamtverspätung (analog FGR): 1436 min - Planmäßige Reisegeschwindigkeit: 65 km/h - Durchschnittliche Fahrzeitverlängerung aufgrund von Verspätung: 5,5% - Fahrtkosten: 8,9 Cent/km - Anschlussquote (alle Anschlüsse einer Verbindung mit min. 1 Umstieg erreicht): 84,1%
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