Tag 2
Wenn man mittags mit ISO 800 fotografiert, weiß man schon, welches Wetter herrscht - Nieselregen bei tristem Wintergrau.
Ich starte natürlich mit der Tram Richtung Dom. Auf den Linien 1, 5, 10, 19 und 33 werden ausschließlich die Vorkriegswagen von Ventotto eingesetzt. Ihr Name (deutsch: 28) kommt vom Baujahr des ersten Serienwagens – 1928. Damit dürften sie zusammen mit den Lissaboner Straßenbahnen zu den ältesten Wagen im Regelbetrieb gehören. Die Haltestellenabstände sind mit 300 bis 500 m größtenteils so, wie man sie in einer Stadt dieser Größenordnung (ca. 1,4 Mio. Einwohner) erwarten würde. Der Verkehr ist italientypisch chaotisch, es gilt das Prinzip der Vorfahrt, wer am meisten Mut hat. Dazwischen noch die Kamikaze-Mofas und Lieferdienste auf E-Bikes, die ganz ohne Treten fahren und ziemlich mitgenommen aussehen.

Die ganze Stadt liegt voller Gleisreste – auch wenn Mailand immer noch ein sehr dichtes Tramnetz hat, musste es in der Vergangenheit Federn lassen. Vom einst ausgedehnten Überlandnetz ist mit der letzten Stilllegung im Jahr 2022 nichts mehr übriggeblieben.
Die Gleisreste stammen teils von Strecken, die durch die U-Bahn abgelöst wurden, teils auch von Umleitungsstrecken, die zur Aufrechthaltung des Betriebs während des U-Bahnbaus errichtet wurden.
Der starke Straßenverkehr vermiest einem so manche Aufnahme und man braucht etwas Glück, mal freie Sicht zu bekommen. Die Tordurchfahrt an der Piazza Cavour hat mich gleich angesprochen und da die Tram oft lange an den LSA warten muss, ergab sich dann unerwarteterweise doch noch ein gutes Bild.
Und nur mal stellvertretend für viele weitere Bilder, die in diesem Stil folgen sollten – das ist eher die Regel als die Ausnahme.
Wie viele Piazzas in Mailand ist die Piazza della Scala vor dem bekannten Opernhaus von dichtem Verkehr geprägt und daher mit überschaubarer Aufenthaltsqualität, die der Nieselregen nicht unbedingt erhöht.
Auf dem Platz findet sich eine Statue Leonardo da Vincis, der zahlreiche Jahre in Mailand verbrachte und daher eine wichtige Persönlichkeit der Stadt ist.

Durch die Galleria Vittorio Emanuele II, welche die Münchner Maximilianstraße kompakt zusammenfasst und um einige Restaurants ergänzt, in der eine Vorspeise 25€ kostet, gehe ich zum Dom. Menschenmassen drängen sich hier.
Die prächtige Fassade des Doms wurde erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt.
Der Plan hätte vorgesehen, beim heutigen Wetter den Dom zu besichtigen und morgen die aussichtsreiche Tour über das Dach zu machen - doch man muss beides am selben Tag machen und obendrein eine bestimmte Uhrzeit für die Dachbesteigung auswählen. Für morgen Nachmittag hatte die Wettervorhersage deutliche Wetterbesserung in Aussicht gestellt - also kaufe ich die Eintrittskarte für morgen um 16:00 Uhr.
Auf dem Domplatz steht eine Statue von Vittorio Emanuele II.
Er war der erste König des geeinten Italiens und ist daher eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Landes – in so ziemlich jeder italienischen Stadt findet man eine Straße, die nach ihm benannt ist.
Natürlich müssen Touristen ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ich es nie begreifen werde, warum?
Für Trambilder braucht es Geduld, ich merke schnell, dass vom versprochenen Takt (8 bis 11 min tagsüber auf den meisten Linien) bis zur Realität eine große Lücke klafft und dann zwei Bahnen im kurzen Abstand kommen.
Wartezeit vertreiben, schon so manches Detail eines Ortes ist mir nur deswegen ins Auge gestochen, weil ich irgendwo auf das Fotomotiv warten musste.
Jumbotram und Ventotto treffen sich am Dom

Im Vergleich zum Ventotto ist die Jumbotram wirklich riesig – aber trotzdem gerade mal 29 m lang. Das Problem zu kurzer Trambahnen ist in Mailand ähnlich gelagert wie in München.
An den Ventotto-Wagen ist Vollwerbung nicht so verbreitet wie an den anderen Fahrzeugtypen, dennoch kommen immer mal wieder Wagen in allen möglichen Farben vorbei
Und nach längerer Wartezeit taucht dann auch ein Vertreter der modernen Tram auf – die Sirio sowie die kürzeren Sirietto (welch netter Name) werden auf den am stärksten belasteten Radiallinien abseits der U-Bahnen eingesetzt – in diesem Fall kamen dann auch gleich zwei hintereinander.
Die Tramhaltestellen im Umkreis des Doms sind auf diverse Seitenstraßen verteilt, weil eine so große Anzahl an Linien sonst gar keinen Platz findet. Ursprünglich war der Domplatz der wichtigste Tramknoten der Stadt – bereits in den 1920er Jahren wurde er aber zugunsten des Stadtbilds entfernt.
Zwei Blocks weiter verbringt Jumbotram 4998 die kurze Wendezeit
Ein modernisierter TIBB-Wagen fährt mir wiederum einen Block weiter vor die Linse
Zeit für ein Mittagessen, aber ganz sicher nicht hier am Dom, wo mir schon eine freundliche Frau die Speisekarte in die Hand drücken will. Paar kleine Straßen weiter entdecke ich etwas preislich Akzeptables, ist aber leider voll. Beim zweiten Versuch werde ich fündig und wähle das Mittagsmenü aus Wasser, Hauptgericht und Früchte für 27€. Nein, Mailand ist wahrlich kein Schnäppchen und die vorherige Recherche hat bereits gezeigt, dass man hier keine Mühe haben wird, 50€ für eine einzige Mahlzeit auszugeben. Anschließend geht es mit der Tram zurück, um mein Stativ zu holen.
Farblich nicht so ideal bei diesem Wetter zeigt sich 1756 bei Cairoli
Blick zum Castello Sforzesco
Werfen wir noch einen Blick auf die Fahrgastinformation.

An den meisten Haltestellen sind Ausschnitte aus dem Netzplan entlang des jeweiligen Linienverlaufs ausgehängt. Da sich diese Ausschnitte am Papierformat orientieren, ist die Ausrichtung immer anders – mal ist Norden unten links, mal rechts. Dazu kommt noch, dass Linien mit vielen Richtungsänderungen „Brüche“ im Plan erfordern, wie man bei der Linie 1 schön erkennt. Ganz einfach finde ich die Orientierung so nicht, da fände ich den gesamten Plan irgendwie verständlicher.
Als nächstes kommt ein Sirio und ganz unvoreingenommen muss ich festhalten, dass das Fahrzeug einfach billig und minderwertig wirkt. Klar kann man über die Farbgebung im Innenraum streiten (wobei es ein Fahrzeug der 2000er ist, war da die mintgrüne Phase nicht schon wieder vorbei?), doch der Boden wellt sich an mehreren Stellen und man geht dann im wahrsten Sinne des Wortes wie auf Eiern.
Die überbreiten Türen können deren zu geringe Anzahl nur teilweise kompensieren – die meisten genutzten Trambahnen waren sehr gut gefüllt bis überfüllt und die hier gezeigten Fotos waren ein Glücksfall und eine Ausnahme.

Die Notbremse dagegen wirkt eher wie aus den 1960er-Jahren…

Die Haltestellen sind für derart lange (35 m!) Trambahnen auch nicht alle ausgelegt.

An der Via Farina/ Via Valtellina kommt mir 4604 entgegen

Jedem Fahrzeugtyp sieht man recht deutlich ihre jeweilige Epoche an – die TIBB-Wagen wurden Ende der 1950er-Jahre gebaut.

7147 fährt vor der Kulisse eines bunt verzierten Wasserturms in die Haltestelle Via Farini/ Via Ferrari ein

In Gegenrichtung ist 4974 vor einer der unzähligen Kirchen der Stadt unterwegs

1746 kommt zur grauen Stunde vor der Kulisse des modernen Stadtteils Porta Nuova eingefahren, mittig die beiden begrünten Hochhäuser Bosco Verticale – fast 1000 Bäume wurden in Trögen auf den Balkonen gepflanzt.

Mit einsetzender Dämmerung ist die Mitfahrt in den Ventotto-Wagen besonders stimmungsvoll.
Leider ist es in den Wagen ziemlich kalt, sie sind mit ihren großen Schiebefenstern eher auf den italienischen Sommer ausgelegt, denn so zieht es kalt rein und die Heizung vermag das nicht zu kompensieren.
Ein letzter Blick in den Spiegel, dann geht’s weiter.
Die Wartezeit an den LSA ist oft lange, wozu auch die ewig langen Zwischenzeiten beitragen, die dann ohnehin nur dazu genutzt werden, um doch noch schnell bei Rot drüberzufahren. Interessant finde ich auch, dass natürlich auch Fußgänger ständig bei Rot gehen und wenn dann doch ein Auto kommt und bremsen muss, hupt es meistens gar nicht. Auch wenn die Italiener sonst nicht gerade für wenig Hupfreude bekannt sind, gibt es hier die deutsche "Besserwisser-Hupe" offenbar nicht (ich hupe, um dir zu zeigen, dass du was falsch gemacht hast).
Inzwischen ist die graue zur blauen Stunde geworden. In den Wintermonaten bleibt viel Zeit für Nachtaufnahmen… 1613 gefolgt von 1747 an der Piazza Otto Novembre
Mal wieder sind die Wartezeiten länger, als der Aushangfahrplan ankündigt und die nächste Tram kommt dann ziemlich voll. Ich lege einen Fotohalt an der Piazza Ascoli ein und habe dafür fast 20 Minuten Zeit. Immerhin funktionieren die DFI recht zuverlässig, was sie anzeigen, stimmt in der Regel mit der Realität überein. Man kann in der etwas unübersichtlichen App von ATM auch jede beliebige Haltestelle auswählen und sich so die DFI aufs Handy holen. Egal ob draußen an der Haltestelle oder auf dem Handy – pro Linie wird leider immer nur die nächste Abfahrt angezeigt, nicht die übernächste. Das macht die Entscheidung, ob man jetzt noch ein Bild abwarten soll, recht spekulativ.
1635 an der Piazza Ascoli
1504 ebendort
In Gegenrichtung ist 1745 unterwegs, im Hintergrund kommt schon der nächste 19er, dafür wird dann wieder für einen längeren Zeitraum keiner kommen.
Interessant ist, dass die Linie 9 hier als Leerfahrt zum Wenden wegen einer Baustellensperrung entlangfährt, obwohl man ja auch Fahrgäste mitnehmen könnte. Maximale Effizienz ist bekanntlich keine Stärke Italiens...
Nur dieser eine Sirietto hält an, um Fahrgäste mitzunehmen
Ich fahre die Linie 5 bis ans Ende, doch an der Endstation gibt es leider keinen Aufenthalt, um mal in Ruhe Fotos machen zu können, also steige ich aus, um mir ein Stück Kuchen zu gönnen. Kaffee bekomme ich zwar keinen, dafür aber eine Panettone.
Eine der zahlreichen Blumen-Buden
1687 gefolgt von einem Sirietto auf seiner langen Dienstfahrt
Damit ist die Nachtfototour auch schon wieder beendet, denn bald ist es Zeit, zum eigentlichen Grund für den Besuch in Mailand aufzubrechen, einem Konzert von Ludovico Einaudi. Ich entscheide mich für die Metro, die im dichten Takt verkehrt und deutlich zuverlässiger als die Tram ist. Meine 3-Tageskarte mit Magnetstreifen muss dabei sowohl beim Rein- als auch beim Rausgehen entwertet werden, wie alle anderen Tickets auch. Vermutlich dient dies der korrekten Abrechnung bei Kreditkartenzahlung sowie als zusätzliches Hindernis, mit einer Fahrkarte für zu wenig Zonen unterwegs zu sein. Die Zugänge der ersten beiden Linien (Eröffnung in den 60er Jahren) sind eng und verwinkelt, die Stationen eher düster und die Haltestellenabstände überraschend kurz und im Durchschnitt deutlich unter 1 km. Letzteres trifft auch auf die neueren Linien zu. Mailand verfügt über das mit Abstand größte U-Bahnnetz Italiens und der Ausbau kommt im Gegensatz zu Rom konsequent voran.

Auffällig ist hier das Dreischienengleis, die M1 nutzt eine seitlich bestrichene Stromschiene sowie die Mittelschiene als Rückleiter.
Stillleben mit Metro
Verglichen mit der Suche nach dem korrekten Sitzplatz im Konzertsaal Teatro dal Verme ist die Orientierung in der U-Bahn ein Kinderspiel. Auf meiner Karte steht Settore B und Reihe F20 drauf. Ich entdecke Sektoren Ct und Sx und keine Reihe, die mit einem Buchstaben beginnt. Ich muss zweimal nachfragen, bis ich endlich kapiere, dass Settore B einfach nur zum Spaß draufsteht, für die Platzsuche aber keinerlei Relevanz hat, genauso wie die ausgeschriebenen Sektoren Ct und Sx und dass das F einfach für Filo (italienisch für Reihe) steht und ich nach Reihe 20 suchen muss. Ich bin dann doch recht beruhigt, dass es nicht an mir liegt und offenbar ein internationales Problem ist. "Hä? Ich glaube, das System hier checkt keiner." "Ich komm net druus." "Dix-huit, c'est oú?" "Alora, effe ventotto...!?"
Über den Betriebsschluss muss ich mir auch keine Gedanken machen, denn die U-Bahn fährt etwa von 6 bis 0:30 Uhr, die Tram von 5:30 Uhr bis 2 Uhr und es gibt täglich Nachtverkehr.
Fast-Food-Kiosk am dunklen Largo Maria Callas
Gemütlich draußen sitzen geht zu dieser Jahreszeit leider nicht, wahrscheinlich fehlt so schon etwas, das Italien ausmacht.
