Die Typologie des Zugreisenden

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eurostarter
Routinier
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Registriert: 03 Jan 2005, 06:54

Beitrag von eurostarter »

Als Bahnfahrer erlebt man ja so einiges. Nach eineinhalb Jahren Wochenendpendlerdaseins im Nahverkehr habe ich meine Erfahrungen einmal in Worte gefasst :lol:

Die Oma

Sie fährt einmal im Jahr mit ihrer Nachbarin nach Tschechien um dort Medikamente zu kaufen. Auffallend ist das aufgeregte Schnattern, das schon bei der Sitzplatzsuche einsetzt. Nach kurzer Zeit wird unter lautem Geraschel die Stulle und das gekochte Ei ausgepackt und die beiden beginnen ihren Medikamentenbedarf anhand einer vorbereiteten Einkaufsliste zu diskutieren. Irgendwann ertönt ein nervenzerreissend lauter Handyklingelton, den die Oma nach ca. 2 Minuten als den ihres vom Schwager ausgeliehenen Handys identifiziert. Nach weiteren zwei Minuten hat die Oma das Handy gefunden und den Annahmeknopf betätigt. Die letzten noch benötigten Medikamente werden - für alle Mitfahrer verständlich - durchgegeben, bis die Verbindung abreißt.

Die Berufstochter

Sie ist ca. 22-26 Jahre alt, wohnt auf dem Land und hat gerade ihren ersten Besuch in der Großstadt hinter sich. Da der Zug ca. fünf Minuten verspätet abfährt, greift sie aufgeregt zum Handy und teilt den Eltern mit, dass sich die Ankunft des Zuges voraussichtlich um fünf Minuten verzögern wird. Zwischenzeitlich sind drei Fahrgäste über ihren meterhohen Rollkoffer gestolpert, den sie in den Mittelgang gestellt hat. Als sie feststellt, dass sie ihre Fahrkarte vergessen hat, bricht sie in Tränen aus und der Schaffner lässt sie aus Mitleid kostenlos mitfahren. Kurz vor Ankunft kontaktiert sie erneut die Eltern, weil der Zug auf einem schnellen Streckenabschnitt zwei Minuten Verspätung abbauen konnte.

Die Studentin

Sie steht schon 45 Minuten vor Abfahrt im Bahnhofsgebäude und penetriert ausnahmslos jeden Passant mit der Frage nach dem Reiseziel, um Mitfahrer für ihr Bayernticket zu finden. Nach einem endlosen Streit über die Frage, wer das Ticket zur Weiterfahrt behalten darf, trabt die Studentin zusammen mit den mitfahrenden Rentnern, Arbeitslosen und Mitstudenten zum Zug. Nachdem sie sich mit ihren neugewonnenen Freunden einige Zeit über das Wetter in der Heimat, den Lieblingsdozenten, die Arbeitsmarktlage und die Verspätungen der Bahn der letzten fünf Jahre unterhalten hat, kramt sie das Begleitskript zur Vorlesung "Polnische romantische Literatur und Geschichtsphilosophie" aus ihrem Rucksack und markiert die Textpassagen in bunter Farbe, bis ihr Kopf langsam absackt und mit einem dumpfen Schlag auf dem Mülleimer aufsetzt.

Das Kulturpärchen

Das Ehepaar gönnt sich einmal im Jahr einen Theaterbesuch in der Großstadt. Vom Bahnhofskiosk irren sie über den Zeitschriftenladen und die Toilette zum Reisezentrum, wo sie eine Normalfahrkarte zum dreifachen Preis des Ländertickets kaufen. Just an diesem Tag zieht eine Streckensperrung 30 Minuten Verspätung nach sich. Nachdem das Ehepaar mit ihren apokalyptischen Endzeitprophezeiungen das zuvor seelenruhige Zugabteil in Wallung gebracht hat, sucht es Gleichgesinnte und verlangt vom Zugbegleiter wild gestikulierend eine Entschädigung für den verpassten Theaterbesuch.

Der Geschäftsmann

Er reist grundsätzlich nur mit Onlineticket, das er auf seinem neu gekauften Medion-Home-Tintenstrahldrucker ausgedruckt hat und das von seinen zitternden Schweißhänden bereits unleserlich geworden ist. Nach der langwierigen Fahrkartenkontrolle holt er sein neues Medion-Notebook aus dem Aktenkoffer und beginnt zufällig ausgesuchte Word-Dokumente zu öffnen und zu schließen. Nach einem Blick in seinen leeren Terminkalender und einer Runde Solitär ertönt der Akkuwarnton, und der Geschäftsreisende schließt mit hochrotem Kopf sein Notebook.

Die Schülergruppe

Die Schülergruppe besitzt eine Jahreskarte für die Fahrt von Kleinniederndorf nach Oberniederndorf und ist jeden Nachmittag auf dem Weg von dort zurück im Zug anzutreffen. Die Türen öffnen sich, ca. 10 Objekte rennen laut schreiend durch den Wagen und lösen eine Fluchtbewegung der restlichen Fahrgäste aus. Sie inszenieren einen affektiert unwirklich klingenden Streit über Handyklingeltöne, um ihre geistige Reife zur Schau zu stellen. Peinliche Kommentare über ihr erfundenes Sexualleben runden die Show ab. Beim nächsten Bahnhof ist ein erleichtertes Raunen zu vernehmen und eine ungewöhnliche Stille setzt ein.

Die Mutter

Sie war mit ihrem dreijährigen Kind einkaufen und fährt im dichten Berufsverkehr nach Hause. Für die zehnminütige Fahrt schaufelt sie sich einen Sitzplatz frei, weshalb zwei genervte Fernreisende ihre kiloschweren Taschen auf dem Schoß balancieren müssen. Dem Kleinkind wird nach mehreren Fußtritten gegen andere Fahrgäste langweilig und es rennt durch den Gang, die hinterherhechtende Mutter wirft ihre Einkaufstüten um und der Inhalt ergießt sich über den Boden. Am Bahnhof zieht sie die Notbremse, um ihre Einkäufe einsammeln zu können.

Der Servicemitarbeiter

Nach seinem wiederkehrenden Ruf "Kaffee, Tee, kalte Getränke, Snacks" kann man die Uhr stellen. Er kündigt sich schon zeitig durch seinen laut klappernden Verkaufsrollwagen an, damit der Gang durch aufwändige Umräumaktionen zugänglich gemacht werden kann. Das Zugpersonal hat er dazu überredet, die Ansagen übernehmen zu dürfen, da er der Meinung ist, sein sächsischer Dialekt würde gut zum neuen Serviceverständnis der Bahn passen. Als der Tagesumsatz drei Produkte erreicht, fällt er vor Freude in Ohnmacht, wobei die vergilbte Kühlbox zu Bruch geht.
Der Reisende
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Beitrag von Der Reisende »

Ich möchte folgende Ergänzung hinzufügen:

Der Reisende

Er erleichtert den Servicemitarbeiter um einen überteuerten Becher Kaffee, überlegt sich, ob er mehr von der Mutter oder der Schülergruppe genervt ist, lacht über den techniküberverwöhnten Geschäftsmann, will die Stundentin an die Wand klatschen, weil sie zum zehnten Mal nachfragt ob sie am Bayern-Ticket mitfahren kann, schüttelt den Kopf über die Naivität der Berufstochter und der Dummheit des Schaffners und fragt sich ob er das Reisezentrum verklagen kann, der die Oma ausgerechnet in diesen Zug geschickt hat.
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120 160-7
Kaiser
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Beitrag von 120 160-7 »

Hm, für den NV hätte ich da noch zwei Spezies:

1. Der Pfandwütige:
Er drängt sich drei Tage nach seiner letzten Dusche, mit zwei bis fünf Plastiktüten namenhafter Discounter durch jeden Wagen. Beugt sich über jeden Fahrgast in der Nähe eines Mülleimers. Findet bei jedem 43. Mal eine Flasche um dann festzustellen, dass es sich um eine Nichtpfandflasche handelt. Drückt sie dem Fahrgast wieder in die Hand und hinterlässt dabei noch ein paar Schweißperlen und Schuppen in dessen Gesicht. Am nächsten Bahnhof steigt er, beseelt, dass er drei Pfandflaschen gefunden hat, wieder aus um mit dem Gegenzug direkt wieder zurück zufahren.

2. Der/Die Musiker:
Untervariante a: Tritt in Kleingruppen a 4 Leute auf. Ein Akkordeonspieler, ein Trompeter, ein Rasseler und ein Geldeintreiber. Beäugt vor dem Einstieg den Zub um dann am genau anderen Ende des Zuges einzusteigen. Mit Anfahrt des Zuges wird "musizierend" oder besser ohrenbetäubende Lärm veranstalltend durch den Zug gerockt, wobei der Geldeintreiber jedem, der nicht mindestens 5 € in den Hut schmeißt, einen fürchterlichen Fluch auferlegt. Bevor sie dann im zweiten Wagen umgehend einer Gruppe Bundespolizisten in die Arme laufen und so dann auch gleich eine warme, trockene Unterkunft für die nächste Nacht gebucht haben.

Untervariante b: Tritt ebenfalls in Kleingruppen auf. Zeichnet sich durch ein Handy oder MP3-Player mit Lautsprecher (was aufs selbe rauskommt) aus. Mit diesem wird dann aller bösen Blicke, gedachter Ermahnungen und angedeuteter Prügel zum Trotz, der Wagen mit dem neusten Türk-Pop und/oder HipHop beschallt.
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120 160-7
Kaiser
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Beitrag von 120 160-7 »

Der hilfsbreite Eisenbahnfreund:
Er kommt selbst auf langen Fernverkehrsreisen kaum zur Ruhe: Mal hilft er Fahrgästen, die nicht in der Lage sind einen Wagenstandanzeiger zu lesen, ihren Sitzplatz zu finden, mal gibt er Anschlussauskünfte an Hand des Reiseplans, des WAP-Angebots der Bahn oder des mitgeführten Laptops. Ab und an bricht er mitten im Gespräch ab und stiert wie gebannt aus dem Fenster (=> ungewöhnliche Zugsichtung). Unabhängig davon führt er dabei noch seine persönliche Pünktlichkeitsstatistik.
Geht er durch den Zug, wird jede offene WC-Tür geschlossen (natürlich nicht ohne vorher die Funktionsfähigkeit der WC-Anlage überprüft zu haben), jedem auf dem Gang sitzenden Fahrgast wird mitgeteilt, dass sich sieben Wagen weiter noch ein freier Sitzplatz im Raucherbereich befindet und jedes falschplazierte Gepäckstück wird an einen passenden Platz gestellt.
Bleibt der Zug auf offener Strecke stehen oder verzögert sich die Abfahrt, grübelt er konzentriert über die möglichen Störungsgründe nach.

Steht ein Angehöriger dieser Spezies am Bahnsteig wird er selbstverständlich zum zusätzlichen Servicemitarbeiter hochgestuft und ließt den verwirrten Fahrgästen vor, was auf dem Schild/dem Fahrplan/dem Wagenstandanzeiger steht, und von diesen Fahrgästen eigentlich auch selbst gelesen werden könnte, was aber aus irgendeinem Grund nicht passiert.
Parallel dazu hat er natürlich immer ein Auge für das Betriebsgeschehen um jeden Moment die Kamera hochreißen zu können und/oder dem gerade ein-/durchfahrenden Lokführer freundlich zuzuwinken.

;)
der2of6
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Beitrag von der2of6 »

Fehlt doch nur noch der Berufspendler ;)

Er steht am Banhsteig, freut sich über die Durchsage, das der Zug heute nur 5 min Verspätung hat und damit eigentlich pünktlich ist.
Dann wartet er auf dir durchsage, das wegen Baustelle die Anschlusszuge nicht erreicht werden und kramt schon mal die Buskarte aus der Tasche um sein Ziel doch noch in einer angemessenen Zeit zu erreichen.
Die Schülergruppe ignoriert er schon seit langem, mp3 Player sei dank.
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