
Die Oma
Sie fährt einmal im Jahr mit ihrer Nachbarin nach Tschechien um dort Medikamente zu kaufen. Auffallend ist das aufgeregte Schnattern, das schon bei der Sitzplatzsuche einsetzt. Nach kurzer Zeit wird unter lautem Geraschel die Stulle und das gekochte Ei ausgepackt und die beiden beginnen ihren Medikamentenbedarf anhand einer vorbereiteten Einkaufsliste zu diskutieren. Irgendwann ertönt ein nervenzerreissend lauter Handyklingelton, den die Oma nach ca. 2 Minuten als den ihres vom Schwager ausgeliehenen Handys identifiziert. Nach weiteren zwei Minuten hat die Oma das Handy gefunden und den Annahmeknopf betätigt. Die letzten noch benötigten Medikamente werden - für alle Mitfahrer verständlich - durchgegeben, bis die Verbindung abreißt.
Die Berufstochter
Sie ist ca. 22-26 Jahre alt, wohnt auf dem Land und hat gerade ihren ersten Besuch in der Großstadt hinter sich. Da der Zug ca. fünf Minuten verspätet abfährt, greift sie aufgeregt zum Handy und teilt den Eltern mit, dass sich die Ankunft des Zuges voraussichtlich um fünf Minuten verzögern wird. Zwischenzeitlich sind drei Fahrgäste über ihren meterhohen Rollkoffer gestolpert, den sie in den Mittelgang gestellt hat. Als sie feststellt, dass sie ihre Fahrkarte vergessen hat, bricht sie in Tränen aus und der Schaffner lässt sie aus Mitleid kostenlos mitfahren. Kurz vor Ankunft kontaktiert sie erneut die Eltern, weil der Zug auf einem schnellen Streckenabschnitt zwei Minuten Verspätung abbauen konnte.
Die Studentin
Sie steht schon 45 Minuten vor Abfahrt im Bahnhofsgebäude und penetriert ausnahmslos jeden Passant mit der Frage nach dem Reiseziel, um Mitfahrer für ihr Bayernticket zu finden. Nach einem endlosen Streit über die Frage, wer das Ticket zur Weiterfahrt behalten darf, trabt die Studentin zusammen mit den mitfahrenden Rentnern, Arbeitslosen und Mitstudenten zum Zug. Nachdem sie sich mit ihren neugewonnenen Freunden einige Zeit über das Wetter in der Heimat, den Lieblingsdozenten, die Arbeitsmarktlage und die Verspätungen der Bahn der letzten fünf Jahre unterhalten hat, kramt sie das Begleitskript zur Vorlesung "Polnische romantische Literatur und Geschichtsphilosophie" aus ihrem Rucksack und markiert die Textpassagen in bunter Farbe, bis ihr Kopf langsam absackt und mit einem dumpfen Schlag auf dem Mülleimer aufsetzt.
Das Kulturpärchen
Das Ehepaar gönnt sich einmal im Jahr einen Theaterbesuch in der Großstadt. Vom Bahnhofskiosk irren sie über den Zeitschriftenladen und die Toilette zum Reisezentrum, wo sie eine Normalfahrkarte zum dreifachen Preis des Ländertickets kaufen. Just an diesem Tag zieht eine Streckensperrung 30 Minuten Verspätung nach sich. Nachdem das Ehepaar mit ihren apokalyptischen Endzeitprophezeiungen das zuvor seelenruhige Zugabteil in Wallung gebracht hat, sucht es Gleichgesinnte und verlangt vom Zugbegleiter wild gestikulierend eine Entschädigung für den verpassten Theaterbesuch.
Der Geschäftsmann
Er reist grundsätzlich nur mit Onlineticket, das er auf seinem neu gekauften Medion-Home-Tintenstrahldrucker ausgedruckt hat und das von seinen zitternden Schweißhänden bereits unleserlich geworden ist. Nach der langwierigen Fahrkartenkontrolle holt er sein neues Medion-Notebook aus dem Aktenkoffer und beginnt zufällig ausgesuchte Word-Dokumente zu öffnen und zu schließen. Nach einem Blick in seinen leeren Terminkalender und einer Runde Solitär ertönt der Akkuwarnton, und der Geschäftsreisende schließt mit hochrotem Kopf sein Notebook.
Die Schülergruppe
Die Schülergruppe besitzt eine Jahreskarte für die Fahrt von Kleinniederndorf nach Oberniederndorf und ist jeden Nachmittag auf dem Weg von dort zurück im Zug anzutreffen. Die Türen öffnen sich, ca. 10 Objekte rennen laut schreiend durch den Wagen und lösen eine Fluchtbewegung der restlichen Fahrgäste aus. Sie inszenieren einen affektiert unwirklich klingenden Streit über Handyklingeltöne, um ihre geistige Reife zur Schau zu stellen. Peinliche Kommentare über ihr erfundenes Sexualleben runden die Show ab. Beim nächsten Bahnhof ist ein erleichtertes Raunen zu vernehmen und eine ungewöhnliche Stille setzt ein.
Die Mutter
Sie war mit ihrem dreijährigen Kind einkaufen und fährt im dichten Berufsverkehr nach Hause. Für die zehnminütige Fahrt schaufelt sie sich einen Sitzplatz frei, weshalb zwei genervte Fernreisende ihre kiloschweren Taschen auf dem Schoß balancieren müssen. Dem Kleinkind wird nach mehreren Fußtritten gegen andere Fahrgäste langweilig und es rennt durch den Gang, die hinterherhechtende Mutter wirft ihre Einkaufstüten um und der Inhalt ergießt sich über den Boden. Am Bahnhof zieht sie die Notbremse, um ihre Einkäufe einsammeln zu können.
Der Servicemitarbeiter
Nach seinem wiederkehrenden Ruf "Kaffee, Tee, kalte Getränke, Snacks" kann man die Uhr stellen. Er kündigt sich schon zeitig durch seinen laut klappernden Verkaufsrollwagen an, damit der Gang durch aufwändige Umräumaktionen zugänglich gemacht werden kann. Das Zugpersonal hat er dazu überredet, die Ansagen übernehmen zu dürfen, da er der Meinung ist, sein sächsischer Dialekt würde gut zum neuen Serviceverständnis der Bahn passen. Als der Tagesumsatz drei Produkte erreicht, fällt er vor Freude in Ohnmacht, wobei die vergilbte Kühlbox zu Bruch geht.