Hessisches ÖPNV-Gesetz

Alles über Stadtverkehr, was woanders nicht passt, wie z.B. Verkehrsverbünde
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Rathgeber
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Beitrag von Rathgeber »

Die hessische Landesregierung plant eine Nivellierung des ÖPNV-Gesetzes, die im Januar 2005 beschlossen werden soll:
HESSISCHES MINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT, VERKEHR UND LANDESENTWICKLUNG

Wettbewerb im Öffentlichen Personennahverkehr aus Sicht des Landes Hessen

Wiesbaden, 24. Mai 2004

Warum Wettbewerb?

Es geht nicht um Ideologie – wie uns dies Kritiker gerne plakativ unterstellen. Die laufenden Betriebskosten im Nahverkehr werden bundesweit jährlich mit öffentlichen Geldern von 12 – 13 Mrd. € finanziert. Die Einnahmen der Verkehrsunternehmen aus öffentlichen Zuschüssen liegen damit sehr viel höher als die Einnahmen aus dem Verkauf der Fahrscheine. In Hessen gibt das Land zu jedem Euro, den ein Fahrschein kostet, etwa 90 Cent lfd. öffentliche Fördermittel hinzu. Weitere Fördermittel zahlen die Kommunen. Die Politik steht gegenüber dem Steuerzahler in der Pflicht, sicherzustellen, dass diese hohen Zuschüsse so wirtschaftlich wie möglich eingesetzt werden. Das Erbringen von Verkehrsleistungen ist eine unternehmerische Tätigkeit. In unserem System der sozialen Marktwirtschaft erbringt  unternehmerische Leistungen derjenige am günstigsten, der sich im Wettbewerb behaupten kann.
Das was in anderen Wirtschaftszweigen eine Selbstverständlichkeit ist, soll auch im ÖPNV selbstverständlich werden. Wettbewerb ist ein Grundelement der sozialen Marktwirtschaft.
Das Erbringen von Nahverkehrsleistungen ist eine unternehmerische Tätigkeit im Dienstleistungssektor. Erbringen kann diese Leistung derjenige am besten, der sich gegen Konkurrenz durchsetzt. Der vor Konkurrenz Geschützte wird zwangsläufig dräge.
Wettbewerb ist das beste Anreizsystem. Wettbewerb ist zentraler Ausgangspunkt für innovative Ideen, flexibles Reagieren, kostengünstiges Produzieren, für Qualitätsverbesserungen und ein marktkonformes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Ohne Wettbewerb verkrusten Strukturen und es sinkt die Innovationsleistung und die Effizienz. Der ÖPNV hat insgesamt ein schlechtes Image. Von viel zu vielen Menschen wird er nur als Notnagel“ für den Fall angesehen, dass das Auto einmal nicht zur Verfügung steht. Unter dem Gesichtspunkt weiter steigender  obilitätsbedürfnisse ist dies ein Problem, denn wir brauchen den ÖPNV als anerkannte Alternative zum Autoverkehr. Gerade in dicht besiedelten Gebieten, wie der Rhein-Main-Region würde sonst alles im Stau ersticken.
Der ÖPNV ist auf absehbare Zeit auf erhebliche öffentliche Gelder angewiesen, weil die Fahrpreise nicht kostendeckend gestaltet werden können. Diese öffentlichen Gelder werden in wettbewerblichen Strukturen effizienter eingesetzt. Es profitiert also der Steuerzahler und
der Fahrgast. Die Fahrpreise werden zwar nicht sinken; aber die im Wettbewerb erschlossenen Effizienzreserven ermöglichen ngebotsverbesserungen in quantitativer, vor allem aber qualitativer Hinsicht.

Wettbewerb und Daseinsvorsorge – wie verträgt sich das?
Ich halte es für wichtig, die Aufgabe der Daseinsvorsorge klar zu trennen von den unternehmerischen Aufgaben.
Wenn der Aufsichtsrat eines Verkehrsunternehmens beispielsweise politisch motiviert die Einrichtung einer unwirtschaftlichen Nahverkehrslinie beschließt, dann schadet er der betriebswirtschaftlichen Ausrichtung des Unternehmens, denn er produziert in voller Absicht rote Zahlen. Kommen solche Fälle häufiger vor, ist bald nicht mehr erkennbar, welche Betriebsergebnisse aus dem unternehmerischen Handeln und welche aus der Daseinsvorsorge heraus zu verantworten sind.
Ein schlechter Unternehmensvorstand wird immer behaupten, die negativen Zahlen hätten ihre Ursache in der politisch motivierten Einflussnahme – und einem guten Vorstand wird es schwer gelingen, das Unternehmensergebnis so zu bereinigen, dass sein betriebswirtschaftlicher Erfolg sichtbar wird.
In dieser undurchsichtigen Gemengelage bleiben Ineffizienzen unentdeckt, können unter Umständen auch prima verschleiert werden.
Die EU hat für dieses Problem bereits schon vor Jahren das Besteller-Ersteller-Prinzip propagiert. Die öffentliche Hand bestellt Leistungen, die sie im Sinne von Daseinsvorsorge für erforderlich erachtet und bezahlt das, was über Fahrgeldeinnahmen nicht erlöst werden kann.
Damit tritt sie neben den Fahrgästen als Kunde des Verkehrsunternehmens auf. Basis von Leistung und öffentlichem Zuschuss sind  partnerschaftliche Verträge. Das Hineinregieren in das Verkehrsunternehmen wird so vermieden, die Transparenz gewahrt.
Nachdem es jahrzehntelang anders gemacht wurde, bestehen derzeit noch Defizite darüber, welche Möglichkeiten die Bestellerfuktion der Politik bietet und dass damit wirksam ein Hineinregieren in Verkehrsunternehmen beendet werden kann.

Warum geht Hessen einen Sonderweg?
Die Lobby des Verkehrsgewerbes stellt dies gerne so dar. Tatsächlich ist der hessische Weg nicht die Ausnahme, sondern die Regel nach dem europäischen Recht. Von den Verbänden des Verkehrsgewerbes wird uns gerade vorgeworfen, dass wir keine rechtssichere  Bereichsausnahme von der EG-Verordnung 1191 befürworten. Schon die Begrifflichkeit zeigt: die Gewerbelobby will nicht den europäischen Regelfall, sondern mit einer Ausnahme möglichst so weitermachen wie bisher. Wir hingegen sind bereit, ein Stück deutsche Spezifika zu Gunsten des europäischen Wettbewerbsgedankens aufzugeben. Andere beharren auf ihren angestimmten Schutzrechten.
Aus der Betroffenheit ist dies verständlich; aus der Sicht des Bürgers und Steuerzahlers jedoch nicht gerechtfertigt.

Was sagt die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 24.07.2003?
Der EuGH hat eine beihilferechtliche Entscheidung getroffen, weil nach dem EG-Vertrag staatliche Beihilfen – also hier die öffentlichen Zuschüsse für den ÖPNV – dann grundsätzlich verboten sind, wenn sie geeignet sind, den Wettbewerb zu verfälschen.
Der EuGH hat zunächst festgestellt, dass für Betriebskostenzuschüsse im ÖPNV abschließend die EG-Verordnung 1191/69 gilt, die das Besteller-Ersteller-Prinzip verwirklicht. Genau diese Vorschrift wenden wir in Hessen an. Nach genannter EG-Verordnung könnte der Nahverkehr jedoch von den EU-Mitgliedstaaten auch als Ausnahme behandelt werden. Ob es eine solche Ausnahme im Bundesrecht rechtssicher gibt, ist der vordergründige juristische Streit. Tatsächlich steht aber dahinter, dass das Besteller-Ersteller-Prinzip nach der EG-Verordnung schneller in wettbewerbliche Ausschreibungsverfahren führt.
Der europäische Gerichtshof sagt weiter, dass der öffentliche Zuschuss nur die Belastungen der Gemeinwohlverpflichtung abdecken und nicht darüber hinaus dem Unternehmen einen finanziellen Vorteil verschaffen darf. Eine solche Überkompensation ist immer dann auszuschließen, wenn die Zuschusshöhe Ergebnis einer wettbewerblichen Ausschreibung ist.
Hat eine öffentliche Ausschreibung nicht stattgefunden, erkennt der EuGH auch den Ausgleich der Kosten eines durchschnittlich gut  geführten Unternehmens an. Der EuGH hat offen gelassen, wie dies ermittelt wird. Die Nahverkehrsexperten sprechen von Marktvergleichspreis. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen hat das Modell der „marktorientiereten Direktvergabe“ entwickelt. Im Prinzip ist diese Variante ein gedanklich simulierter Wettbewerb.
Wir meinen: ein gedanklich oder virtuell simulierter Wettbewerb kann nicht besser sein als der reale Wettbewerb!!!

Wie ist der Stand der Ausschreibungen in Hessen?
In Hessen diskutieren wir bereits seit 1999 sehr intensiv. Zwischenzeitlich gibt es fast überall Wettbewerbskonzepte, die bestimmen, dass Einzellinien zu sinnvollen wirtschaftlichen Einheiten, wir nennen sie Linienbündel, zusammengeführt und als auszuschreibendes Los definiert werden. Dann gibt es eine zeitlich gestaffelte Ausschreibungsfolge, weil es der Markt nicht vertragen könnte, Wettbewerb so zusagen „im Hau-ruck-Verfahren auf ganzer Linie und in einem Schlag“ einführen zu können. Die Ausschreibungen sind zeitlich gestaffelt
schrittweise über mehrere Jahre; im Busbereich bis zum Ende des jetzigen Jahrzehnts, im Schienenbereich bis in die Mitte des nächsten Jahrzehnts.
In diesem Jahr, also nach 5 Jahren intensiver Vorbereitung kommt es nun zu den ersten größeren Ausschreibungen, nachdem im vorletzten Jahr im Schienenverkehr die grenzüberschreitenden Netze „Westerwaldnetz“ und „Drei-Länder-Eck“ (Dillenburg/Siegen) und im letzten Jahr bereits einige kleinere Ausschreibungen im Busverkehr durchgeführt wurden:

im Schienenverkehr
• das sogenannte Nord-Ost-Netz (Kassel-Witzenhausen-Bebra-Melsungen-Kassel)
- Vergabeverfahren läuft -;
• Kahlgrundbahn (Hanau – Schöllgrippen)
- Vergabeverfahren wird derzeit vorbereitet -;
• Regio-Konzept Mittelhessen
- Vergabeverfahren wird derzeit vorbereitet -;

im Busbereich
Linienbündel
im Landkreis Fulda, Landkreis Marburg-Biedenkopf, Lahn-Dill-Kreis, in der Stadt Frankfurt a.M. und kleinere Linienbündel in Nordhessen (insbesondere Landkreise Hersfeld-Rotenburg und Schwalm-Eder).

Welche praktischen Probleme gibt es mit den Ausschreibungen in Hessen?
Die Verbünde tragen alle Erfahrungen aus den hessischen Ausschreibungen zusammen und prüfen, welche Folgerungen daraus für die Zukunft zu treffen sind.
In den ersten Ausschreibungen hat sich gezeigt, dass kommunale Verkehrsbetriebe und Tochterunternehmen kommunaler Verkehrsbetriebe sehr günstig anbieten. Dies kann dann zu Wettbewerbsverzerrungen führen, wenn die günstigen Preise nur deshalb möglich sind, weil von dritter Seite ebenfalls öffentliche Zuschüsse gezahlt werden.
In den Ausschreibungsverfahren ist daraus die Konsequenz gezogen worden, solche Verfälschungen rechnerisch zu neutralisieren (wobei die meisten öffentlichen Verkehrsunternehmen dies ohnehin schon in ihrer Buchführung und dann auch in der Kalkulation tun).
Für den künftigen Ordnungsrahmen bedarf es dringend einer Bündelung der zahlreichen öffentlichen Fördertöpfe beim ÖPNV-Aufgabenträger. Die transparente Anwendung der Verordnung (EWG) 1191/69 erfordert es, dass alle öffentlichen Zuwendungen von der Stelle gewährt werden, die dem Verkehrsunternehmen „Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes“ auferlegt. Eine Konsequenz, die übrigens die Väter der Bahnreform bereits 1994 ins Regionalisierungsgesetz geschrieben haben, die aber bis heute keine praktische Relevanz bekommen hat.
Von den Verkehrsunternehmen wird immer wieder gefordert, funktional auszuschreiben und nicht jede Kleinigkeit vorzugeben. Dem ist voll zuzustimmen, denn die Kreativität der Unternehmen soll dem Angebot zu Gute kommen. Das Vergaberecht regelt jedoch, dass die Leistung so zu beschreiben ist, dass jeder Bieter weiß, was er liefern soll, und es dürfen dem Bieter durch Offenlassen wichtiger Kriterien eine unwägbaren wirtschaftlichen Risiken entstehen. Leider zeigt sich immer wieder in Vergabeverfahren, dass die Bieter auf diese Bestimmung besonderes Augenmerk legen und sofort rügen, wenn eine Aufgabe nur funktional beschrieben wird. So erschweren sie  selbst, dass sich ihre global erhobene Forderung  durchsetzen kann. 

Gefährdet die hessische Ausschreibungs-Strategie Arbeitsplätze?
Wir wollen im ÖPNV keinen Leistungsabbau betreiben; im Gegenteil, die Qualität soll, um mehr Fahrgäste zu gewinnen, steigen. Also wird auch weiterhin das Personal in erforderlichem Umfang, vor allem aber auch mit der erforderlichen Qualifizierung gebraucht. Unternehmen, die auf angelerntes Hilfspersonal setzen, haben keine Chance.
Ein Unternehmen, das im Wettbewerb steht, ist selbstverständlich gezwungen, scharf zu kalkulieren. Es wird die Personalressourcen so bemessen, dass eine hohe Produktivität erzielt wird. Personalstellen werden kritisch daraufhin überprüft, ob sie wirklich benötigt werden. Beispielsweise werden die Busumlaufpläne optimiert. Wenn ein Linienumlauf statt mit bisher  20 Bussen auch mit 18 Bussen zu schaffen ist, dann wird das das Unternehmen auch umsetzen.
Das ist aber ein Prozess, den wir überall erleben, der für jede Branche dringend notwendig ist und letztlich ihr Überleben insgesamt sichert.

Fördert der Wettbewerb im ÖPNV ein Lohndumping?
Hohe Qualitätsstandards, die im ÖPNV nicht in Frage gestellt werden, können nicht mit schlecht bezahltem Personal erreicht werden.
Ein Problem sind aber sicherlich die unterschiedlichen Löhne in der ÖPNV-Branche. So verdient beispielsweise ein Busfahrer bei einem privaten Busunternehmen deutlich weniger als sein Kollege bei einem kommunalen Busunternehmen. Hier muss es eine Anpassung geben. Die Tarifvertragsparteien sind herausgefordert, der Entwicklung in ihrer Tarifpolitik Rechnung zu tragen. Hierzu gibt es auch erste  Ansätze, die in Richtung einheitlicher Tarifverträge für die gesamte Branche gehen. Dies halten wir für den richtigen Weg. Man wird es jedoch nicht erreichen können, wenn man alle Besitzstände behalten will.
Quelle: Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung (pdf-Datei, 190 kB)
Rathgeber
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Dave
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Beitrag von Dave »

Dazu gab es jetzt auch erste Studien und natürlich viel Protest. Mehr nachzulesen auf http://www.bahnaktuell.org/News/Freitag/fr...itag.html#22058

Kurzzusammenfassung: Mittelständische private Busunternehmen werfen der Landesregierung vor die kommunalen Unternhemen zu bevorzugen. So werden Bedingungen gestellt zu welchen die Privaten angeblich nicht arbeiten können und bei einem Verlust der Linienkonzession Pleite gehen und ihre Mitarbeiter entlassen müssen. Desweiteren wurden außer in Frankfurt (Main) noch keine Verkehre kommunaler Anbieter ausgeschrieben.
Desweiteren analysierte die Studie Busfacts vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung und Regionalanalyse Emden die Ausschreibung und warnt vor skandinavischen Verhältnissen. Sie warnen davor, dass die vermeintlichen Einsparungen nicht hoch sind (in Hessen sogar gegenteilige Wirkung) und stattdessen irgendwann nur noch Global Player im Markt vertreten seien. Meine Anmerkung dazu: Sind kommunale Anbieter Global Player? Ich bin zwar gegen diese Politik gegen den Mittelstand, nur z.B. Connex (in Schweden sehr aktiv) hilft die hessische Politik auch nicht, weder im Stadtverkehr als im SPNV. Sie hilft nur der Hessischen Landesbahn (HLB) und kommunalen Busunternehmen,

Grüße, Dave
[font=Times]"Die Abwrackprämie soll die deutsche Wirtschaft ankurbeln. Von wegen. Warum die Prämie den Falschen hilft, viele Kunden foppt und zum Betrügen geradezu einlädt." Artikel Politik abgewrackt! auf taz.de[/font]
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