
Da bei nur 3 Tagen der Zeitrahmen für Stadtbesichtigung und Tramnetz erkunden doch recht knapp bemessen ist, reiste ich per Flugzeug in 3,5 Stunden Tür-zu-Tür-Zeit je Richtung an - die Zugfahrt hätte mir dann doch etwas zu lange gedauert, zudem kenne ich die Strecke bis Budapest schon

Timisoara an der Bega - ein wahres Juwel des früheren Österreich-Ungarn, mitten im Banat, näher an Belgrad als an Bukarest gelegen, vom heutigen Massentourismus, der mittlerweile fast überall in Europa grassiert, bisher gänzlich verschont geblieben. Ich genieße es immer wahnsinnig, wenn es in Städten dieser Größenordnung keine Sightseeing-Busse gibt, keine mit Regenschirm oder bunten Fähnchen angeführten Touristengruppen, und wenn man selbst dann, wenn man den ganzen Tag in der Stadt unterwegs ist, maximal 15 bis 20 andere Touristen sieht bzw. hört (englisch, deutsch, russisch). Die Städte in Europa, in denen das so ist, werden ja leider immer weniger, aber es gibt sie noch

Bei meinem ersten Spaziergang in Timisoara habe ich mich sehr stark an eine andere Stadt des ehemaligen Österreich-Ungarn erinnert gefühlt, die ich bereits besucht habe - Chernivtsi, in der heutigen Ukraine gelegen und dem internationalen Massentourismus ebenfalls völlig unbekannt. Beide Städte haben für mich persönlich ein sehr ähnliches Flair. Man fühlt sich - wie ich im Thementitel bereits genannt habe - schlicht und einfach wie auf einer Zeitreise ins Jahr 1905. Verträumte, verlassene Vorstadtstraßen mit Wohngebäuden in prächtigster Architektur, reichst verzierte Fassaden an jedem Gebäude, gesäumt von windschiefen Bäumen am Rand der Gehsteige... alles halb verfallen, alles seit Jahrzehnten unsanierte und unveränderte Gebäude, alles wie im Dornröschenschlaf... teilweise in den Seitenstraßen, ja auf versteckten Plätzen und Parks am Wochenende 5 bis 10 Minuten kein einziger anderer Fußgänger, kein Auto, einfach nichts... es ist einfach unglaublich, dieses Flair zu spüren und zu erleben. Ich habe mich stundenlang in diesen ruhigen Seitenstraßen Timisoaras verloren, treiben lassen, genossen, die Atmosphäre aufgesaugt - ein absoluter Traum. Diese einzigartige Atmosphäre habe ich bisher nur in diesen beiden Städten erlebt, wobei sie in Chernivtsi insgesamt noch etwas ausgeprägter ist als in Timisoara, das zumindest auf den zentralen Plätzen dann doch auch sehr viel modernes, städtisches Großstadttreiben mit Straßencafés, Eisdielen, und vielen Menschen zu bieten hat.
Was kann ich sagen? Timisoara hat mich in vielen Punkten überrascht. Fangen wir doch mal bei der Tram an: ich bin bisher noch nie mit Bremer Wegmännern gefahren und kannte diese Fahrzeuge bisher nicht. Umso überraschter war ich, dass sie sich wirklich fast wie Münchner P-Wagen anhören. Am Anfang mußte ich so manches mal überlegen, ob jetzt gleich ein Wegmann oder ein Münchner P um die Ecke kommen wird, man hat aber dann schnell raus, dass die Wegmänner sich teilweise etwas "höher" anhören, also irgendeine Art Surren im Fahrgeräusch haben, dass den P-Wagen fehlt.
Am meisten überrascht war ich von der Aufteilung des Wagenauslaufs. Ich war nur am Wochenende in Timisoara, wobei der Pfingstmontag auch in Rumänien ein Feiertag war. Somit habe ich nur den Wochenend- bzw. Feiertagsauslauf erlebt. Stark überrascht war ich aber, dass die Wegmänner nahezu 100% des Wagenauslaufs stellen. Außer Wegmännern waren auf dem gesamten Netz an allen Tagen nur 2 P-Solos im Einsatz (Wagen 2013 auf der Linie 4, Wagen 2030 auf der Linie 5) und ein Fahrzeug, das mir nach Düwag ausgesehen hat (Wagen 109, sonntags auf der Peripherie-Tangente Linie 9, montags dann auf der Linie 6). Traktionen gab es nur aus Wegmännern gebildet und nur auf der Linie 8.
Ich habe in den letzten Jahren hier und auf der Drehscheibe sehr viele Bildberichte aus Timisoara gesehen, und mir persönlich hat es immer den Anschein erweckt, dass sich Wegmänner und P-Wagen in etwa die Waage halten. Es hat aber irgendwie nie einer der Beitragsschreiber erwähnt, dass der Anteil der P-Wagen zumindest am Wochenende verschwindend gering ist! Das finde ich schade, weil es eigentlich eine elementarste Information für alle ist, die diesen Betrieb besuchen wollen. Ich hoffe, dass ich damit zur Aufklärung für eventuelle zukünftige Timisoara-Erstbesucher beitragen kann!
Bauarbeiten bei der Tram selbst gab es nicht viele während meines Besuchs. Es ist zwar derzeit im Innenstadtbereich von Timisoara (also dort, wo das Straßenraster eckig ist) etwa die Hälfte der Straßen und Plätze komplett gesperrt und für eine großangelegte Sanierung des städtischen Kanalsystems tief aufgegraben, aber die Straßenbahn ist davon nicht betroffen.
Lediglich der sehr kurze Abschnitt Piata Traian - Banatim im Osten der Stadt bei der Bierfabrik ist derzeit wegen Gleissanierung gesperrt und aufgegraben, was Umleitungen bei den Linien 4, 5 und 6 mit sich bringt. Linie 4 verkehrt zwischen Calea Circumvalatiunii und Banatim abgeleitet über Piata Maria - Piata Crucii und ersetzt hier die Linien 5 und 6, Linie 5 verkehrt Ronat - Piata Traian und dann die Schleife via UMT, Linie 6 verkehrt Calea Torontalului - Piata Traian und dann zur Schleife am Gara Timisoara Est, wo sie wendet.
Link zum Tram-Netzplan bei Wikipedia
Die im Wikipedia-Netzplan noch gestrichelt eingezeichnete Linie 3 ist wohl dauerhaft stillgelegt.
Was ist mir an Timisoara noch aufgefallen? Die Tauben. Sie sind einfach überall. Ich habe noch nie in einer Stadt eine dermaßene Taubenplage erlebt, nichtmal in Paris, wo es mir bisher am extremsten aufgefallen war. Egal wo man sitzt oder geht, immer watschelt die Taubenmafia in großen Gruppen um einen rum und schaut, ob was Essbares abfällt. Ich persönlich fands am Ende nicht schlimm, aber es ist mir halt einfach (ohne Wertung) aufgefallen.
Außerdem: an sehr sehr vielen der Altbauten sind große, alte Holzrolläden an den Fenstern angebracht. Von diesen Rolläden scheinen 80% völlig kaputt zu sein, und sie sehen dauerhaft heruntergelassen aus. Ist der Leerstand an Wohnungen im Zentrum einfach so groß, oder soll man sich hier schmunzelnd Graf Dracula als Stadtbewohner vorstellen? Ich dachte eigentlich, der hat sein zuhause in Schloss Bran ein paar hundert Kilometer weiter östlich

Zur Organisation des Stadtverkehrs: für die Anbindung des Flughafens gibt es eine Expressbuslinie 4. Die ist aber am Wochenende völlig nutzlos, weil sie "Taktlücken" von teilweise mehr als 2 Stunden hat und in keinster Weise auf Flugankünfte/abflüge abgestimmt ist. Man ist also als Tourist auf ein Taxi mehr oder weniger angewiesen. Am Ende hat es mir nichts gemacht, weil ich sowohl bei der Hin- wie auch auf der Rückfahrt sehr nette Taxifahrer erwischt habe, aber die öffentliche Flughafenanbindung kann man getrost als die schlechteste Europas neben Odessa bezeichnen - und das, obwohl der Flughafen Timisoara gar nicht mal so klein ist wie manch anderer in der Region Osteuropas.
Zum Thema Fahrtkartenkauf: eine Katastrophe für Touristen, eine der schlechtesten Verkaufs-Infrastrukturen Europas. Keine Fahrkartenautomaten, kein Verkauf beim Fahrer, kein Verkauf an der Hotelrezeption. Die Verkaufskioske der Verkehrsbetriebe sind am Wochenende komplett geschlossen, die übrigen (Zeitungs-)Kioske verkaufen nur Einzelfahrscheine. Die kann man wiederum nur am jeweils vordersten Entwerter der Trambahnen entwerten, weil die übrigen Entwerter im Fahrzeug nur für die Plastikkarten der Einheimischen vorgesehen sind (ich hab mal irgendwo gelesen, man könnte Einzelfahrscheine am jeweils vordersten und hintersten Entwerter eines Fahrzeugs entwerten. Das stimmt zumindest bei einem Großteil der Fahrzeuge schlicht nicht, es geht nur am vordersten). Die Entwerter für die Papiertickets sind zudem noch extrem pingelig was den Einführwinkel des Einzelfahrscheins angeht, teilweise braucht es vier Versuche bis mal der Stempelaufdruck erfolgt. Unterm Strich hab ich für die drei Tage exakt 15 Einzelfahrscheine für insgesamt 30 Leu benötigt, was dem Preis von drei Tageskarten exakt entspricht. So hatte ich aber leider immer noch das Gefiesel jedesmal beim Einsteigen.
Was ist mir noch aufgefallen? Die Wegmänner haben komische Türen, teilweise sehr eng. Da bin ich froh, dass man unsere Münchner Ps doch etwas anders ausgestattet hat. In Timisoara haben die Wegmänner zudem an allen Türen außer der Fahrertür so komische Metallklappen, die man für den Ein- oder Ausstieg manuell wegklappen muß, selbst wenn die eigentliche Fahrzeugtür bereits geöffnet wurde. Sind die Dinger original aus Bremen, oder in Timisoara nachgerüstet worden? Welchen Zweck soll das haben?
Außerdem sind mir in einigen Wagen getönte Scheibenfolien aufgefallen, die auf die Seitenfenster geklebt sind. Dienen die als Schutz vor Scratching, als Sonnenschutz oder als beides?
So, das mal als Einstieg. Ich werde im Lauf der nächsten Tage noch einige Fotos hochladen, wobei es nur ein paar Trambilder geben wird, aber dafür viele Fotos der Architektur in dieser herrlichen Stadt.
