
(Blick auf die Seebrücke Bansin)
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wirklich für ein Bingo! gereicht hat, wahrscheinlich für keine komplette Reihe. Zahlenmäßig habe ich aber locker das halbe Feld zusammenbekommen.
Startpunkt der Reise war gewissermaßen kurz nach Ostern dieses Jahres. Da ein runder Geburtstag in der Familie anstand und das ganze Drumherum bereits im Winter geplant wurde, habe ich natürlich die großzügige Vorverkaufsfrist genutzt und im April meine Fahrten gebucht. So ergatterte ich eine erstklassige Hinfahrt für 34,40 Euro und eine zweitklassige Rückfahrt mit Reservierung für 26,25 Euro. Und dann wuchs die Vorfreude von Tag zu Tag, denn ich malte mir gedanklich eine wunderbar entspannte zehnstündige Fahrt aus, nach der ich im letzten Licht das Meer begrüßen und anschließend das Buffet plündern könnte. Ungefähr so:

(Seebrücke Heringsdorf, allerdings im Morgen-, nicht im Abendlicht)
Selbstverständlich kam es anders.
Dass das Sturmtief Xavier in der vergangenen Woche ein bisschen was im deutschen Schienennetz kaputt gemacht hat, dürfte sogar jeder Autofahrer mitbekommen haben. Folglich war der Anruf meiner Familie am vergangenen Freitagabend nur folgerichtig, ob ich denn auch wie vereinbart ankommen würde. Natürlich hatte ich unlängst gelesen, dass die Bahnstrecke Berlin-Stralsund zu diesem Zeitpunkt gesperrt war und die Freigabeprognose erst den Sonntag in Aussicht stellte. Die DB vermeldete online für diese Strecke jedoch keinerlei Einschränkung im Fernverkehr und auch der Verspätungsalarm blieb still.
Auf alles vorbereitet, aber dennoch zuversichtlich startete ich daher am vergangenen Samstagmorgen um kurz vor 6 mit dem Agilis von Ulm nach Ingolstadt. Zu meiner Enttäuschung bietet die 1. Klasse im Agilis-Mops exakt dieselben Sitze und Sitzabstände wie die 2. Klasse, sodass zwei Stunden Schlummern eher zur unbequemen Angelegenheit verkamen. Wie schon bei meiner letzten Agilisfahrt verweigerte auch diesmal das Terminal des Zugbegleiters den Scan eines Handytickets, aber zu dieser frühen Stunde war der gute Mann ohnehin nicht allzu motiviert und zog dann einfach schulterzuckend weiter.
Die Weiterfahrt verlief einem Samstagmorgen entsprechend unspektakulär. Kurzer Stopp bei der Einfahrt nach Ingolstadt, um den München-Nürnberg-Express vorzulassen, sodass ich beim Bahnsteigwechsel nicht trödeln konnte, dann begann auch schon die Fahrt im ICE 1512. Fahrtziel laut Bahnsteiganzeiger: Ostseebad Binz. Fahrtziel laut Zug-FIS: Ostseebad Binz. Fahrtziel laut Begrüßungsdurchsage: Stralsund. Prima, also komme ich wie geplant ans Ziel!
Mein Einzel-Sitzplatz erwies sich leider als weniger ruhig und entspannt als erwartet. Das lag zum einem am gefühlten 1. Klasse-Füllgrad von 95 %. Rüstige Rentnertruppe? Hoffentlich fahren die jetzt nicht acht Stunden lang mit und plappern die ganze Zeit vor sich hin ... Zum anderen lag der Platz im Wagen 27. Der Wagen jenseits oder diesseits (zutreffendes bitte gemäß eigener Klassenpräferenz auswählen) des Bordrestaurants, der aus zwei Dritteln 2. und aus einem Drittel 1. Klasse besteht. Der Wagen, der nur am 1. Klasse-Ende Toiletten hat, weil am anderen das Restaurant ist. Sitzt man hier in der 1. Klasse, kommen also alle naselang 2. Klasse-Reisende vorbei, die ihre Blase nicht beherrschen können. Und 1. Klasse-Reisende, die nicht auf den am-Platz-Service warten können. Ausgewiesen ist der 1. Klasse-Bereich hier dennoch als Ruhezone. Ha!
Kurz darauf wird mir ein Gratissnack in Form eines Schokoriegels gereicht. Danke, Sie dürfen gern noch ein paar Mal vorbeikommen! Es sollte der erste und letzte Schokoriegel an diesem Tag sein. Es folgt die Ticketkontrolle (war da nicht mal was mit Selbst-Check-Inn?) mit nicht-versagendem Terminal. Am Zweier neben mir sitzt ein Rentnerpärchen, das die Definition von Sparpreis missverstanden hat:
"Ja, Sie dürfen mit Ihrem Ticket bis nach Rügen fahren. Aber mit diesem ICE hier nur bis nach Stralsund. Schauen Sie hier auf Ihrem Ticket steht das auch: ICE bis Stralsund und danach mit dem Regionalzug weiter. Wie genau, das fragen Sie bitte noch mal nach dem Personalwechsel in Naumburg, ich habe dazu keine Informationen hier." Unsicher, ob die zwei das wirklich verstanden haben, zieht die Zubse von dannen. Vielleicht lag der unsichere Blick aber auch an dieser zuvorkommenden Information. War da nicht mal was mit 1. Klasse-Service?
Kurz darauf erreichen wir Nürnberg. Zu meiner Erleichterung verlässt die plappernde Rentnertruppe hier ihren Vierer. Parallel zu uns fährt am Nachbargleis der ICE nach Hamburg ein. Es vibriert in meiner Hose. Die Blechelse verkündet die nächsten Anschlüsse: "ICE 1512 nach Ostseebad Binz über Erlangen. Heute ohne Halt in Berlin Gesundbrunnen, Eberswalde Hauptbahnhof, Angermünde, Prenzlau, Pasewalk, Anklam, Züssow, Greifswald."
Okay, denke ich, also werden wir wohl über Neustrelitz nach Stralsund umgeleitet? Ich ziehe mein Smartphone aus der Hose, öffne den Verspätungsalarm: Bei allen Halten jenseits von Berlin Hbf steht "Halt entfällt". Ja was denn nun?
"Wir begrüßen nun auch alle in Nürnberg zugestiegenen Fahrgäste auf unserer Fahrt nach ... Berlin. Sehr geehrte Fahrgäste, leider erreichte uns soeben die Nachricht, dass dieser Zug heute nur bis Berlin Hauptbahnhof verkehrt. Für Ihre Anschlüsse zu Zielen jenseits von Berlin wenden Sie sich bitte am Informationsschalter in Berlin Hauptbahnhof an das örtliche Personal."
Ich seufze. Zum einen darüber, dass die nächsten Stunden nicht so werden wie geplant. Zum anderen darüber, dass solche Ansagen genau der Grund sind, warum Menschen sich das Bahnfahren abgewöhnen.
Ich telefoniere kurz, um meine Familie darüber zu informieren.
Es folgen zwei ereignislose Stunden durch den Frankenwald. Bis wir kurz vor Saalfeld zum Stehen kommen:
"Sehr geehrte Fahrgäste. In wenigen Minuten werden wir einen außerplanmäßigen Halt in Saalfeld einlegen, um dort Fahrgäste eines ausgefallenen Zuges aufzunehmen. Ich bitte Sie, Jacken und Gepäck von freien Sitzplätzen zu entfernen, um auch den dort zusteigenden Reisenden Platz bieten zu können."
Immerhin! In Saalfeld steht eine gestrandete IC-Garnitur im 101er-Sandwich am Bahnsteig und es steigen nicht wenige Menschen zu. Kurz darauf lässt sich mal wieder eine Zugbegleiterin blicken und fragt unmotiviert, wer Fahrgastrechte-Formulare benötigt. Da sie jedoch geradezu an uns allen vorbeirauscht und nicht sonderlich laut gefragt hat, nimmt niemand in Sichtweite dieses Angebot wahr. Es sollte für heute das letzte Mal sein, dass ich einen Zugbegleiter in diesem Zug sehe.
In Jena steigt der Füllgrad weiter, aber noch findet offenbar jeder einen Sitzplatz, zumindest entdecke ich in der benachbarten 2. Klasse noch etliche nur einfach belegte Zweier. Nach dem Personalwechsel in Naumburg erfolgt zuallererst folgende Durchsage: "Für alle Fahrgäste mit Fahrtziel jenseits von Berlin: Bitte bleiben Sie unbedingt bis Berlin Hauptbahnhof im Zug. Ich informiere Sie über weitere Fahrtmöglichkeiten, sobald ich Informationen dazu habe."
Das mit den halb besetzten Zweiern ändert sich in Leipzig. Zwar steigen viele Menschen aus, aber noch viel mehr zu. Mit dieser Anzahl ist der solo T7 dann doch überfordert, im Übergang zum nächsten 1. Klasse-Wagen bleiben etliche Menschen stehen, darunter eine Familie mit zwei lautstarken Kleinkindern. Der Füllgrad erhöht zumindest die bis dahin frostig anmutende Innenraumtemperatur ein wenig, viele behalten ihre Jacken dennoch an.
In Bitterfeld warten wir Anschlussreisende eines verspäteten Zuges ab, trotzdem stehen bislang nur +10 auf der Uhr. Das ändert sich eine halbe Stunde später, als wir kurz vor Luckenwalde zum Stehen kommen: "Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund der Unwetterschäden der letzten Tage ist der folgende Streckenabschnitt nur eingleisig befahrbar. Wir müssen nun einige entgegenkommende Züge abwarten und setzen unsere Fahrt in etwa 20 Minuten fort und erreichen Berlin Südkreuz dann gegen 13:50 Uhr. Ich habe nun bereits Informationen zu ersten Anschlüssen in Berlin: Sie erreichen dort einen IC nach Hamburg, Abfahrt am Hauptbahnhof um 14:26 Uhr. Reisende nach Neustrelitz nutzen ab Berlin Hauptbahnhof bitte die S-Bahn nach Berlin-Buch. In Berlin-Buch besteht Anschluss zu einem Schienenersatzverkehrsbus nach Bernau. In Bernau besteht Anschluss zu einem Schienenersatzverkehrsbus nach Eberswalde. Und ab Eberswalde verkehren wieder planmäßige Züge nach Neustrelitz."
Ich blinzle, schaue mich um, entdecke jedoch bei sonst niemandem eine Regung zu dieser Ansage. Neustrelitz. Das liegt auf der Bahnstrecke Berlin-Rostock. Dort, wo der Abzweig nach Neubrandenburg und Stralsund ist. Dort wäre unser Zug planmäßig niemals langgefahren. Und mit dieser Reisekette erreicht man auch ganz sicher niemals Neustrelitz. An diesem Tag nicht mal mit diesen Umwegen, da Neubrandeburg-Neustrelitz ebenfalls wegen Sturmschäden dicht war.
Ich überlege, ob ich zur Zugchefin gehen und sie über diese falsche Durchsage informieren sollte, doch fürs erste hat meine eigene Reisekette Vorrang. Da ich online lediglich Infos zur Regiosperrung Berlin-Eberswalde gefunden habe, aber nichts zum SEV, kalkuliere ich die weitere Fahrt durch: S-Bahn nach Buch mit Umstieg am Hbf sind schon mal mehr als 30 Minuten. Dann S-Bahn-SEV nach Bernau und schließlich Regio-SEV nach Eberswalde ... locker eine Stunde. Ab Eberswalde fährt alle zwei Stunden ein RE zur Ostsee weiter ... natürlich genau so, dass ich dort noch mal eine Stunde warten darf ... wenn alles gut läuft, bin ich also 18:50 Uhr in Anklam. Statt 15:50 Uhr mit dem ICE. Wohlgemerkt sah der Plan vor, dass ich von der autofahrenden Familie in Anklam aufgesammelt und mit auf die Insel genommen werde, da mir die Umwegfahrt mit der UBB über Züssow dann doch etwas zu langatmig und dank UBB-Zuschlag auch zu teuer war.
Ich telefoniere und habe Glück: "Wir sind noch vor Berlin, sollen wir dich nicht lieber dort aufsammeln?" - "Hmja. Dann aber besser Südkreuz, das ist gleich an der Stadtautobahn."
Es ist inzwischen 14 Uhr, wir stehen immer noch. Bisher kamen uns ein ICE und ein EC entgegen. 10 Minuten später kommt noch ein Regio, dann gehts mit +45 weiter. Gegen 14:20 Uhr erreichen wir Berlin Südkreuz. Zuvor ertönte nochmals die Durchsage mit Anschlüssen nach Hamburg (der IC wartet sogar auf uns!) und Neustrelitz via Eberswalde. Wenn der SEV auch noch schief gegangen wäre, hätte ich in Eberswalde dann womöglich sogar den RE verpasst und wäre noch zwei Stunden später angekommen. Stattdessen erwarteten mich nun noch 3,5 Stunden beengte Autofahrt im Dauerregen und eine alles andere als entspannte Ankunft gegen 18 Uhr in Heringsdorf. Ein bisschen Licht für den Gang zum Meer wäre noch vorhanden gewesen, aber nach dieser 12-stündigen Tortur steht mir gerade nicht der Sinn danach. Das Hotel wartet. Und die restliche Familie auch.

(Das Hotel)