Tag 26 Stockholm → Basel
Für die kurze S-Bahnfahrt zum Hbf brauche ich nochmal eine Einzelfahrkarte, denn leider wird Interrail in Schweden nicht bei allen Bahngesellschaften anerkannt, unter anderem nicht bei der S-Bahn Stockholm. Viele Menschen warten bereits auf dem Bahnsteig, als der X2000 ein paar Minuten vor Abfahrt bereitgestellt wird.
Fast alle Plätze sind belegt, aber in der 2. Klasse waren zumindest gestern Abend im Gegensatz zur 1. Klasse noch Fahrkarten zu bekommen.
Die planmäßige Abfahrtszeit verstreicht, doch nichts passiert. Nach ein paar Minuten gibt es eine Durchsage, ich verstehe nur etwas von tekniska problem. Mit +10 rollen wir schließlich los, wenige Minuten später bleibt die Stadt in der strahlenden Sonne zurück. Es liegt nur noch wenig Schnee, die Seen sind aber komplett zugefroren.
Nach rund einer Stunde kommen wir auf freier Strecke zum Halten, fahren dann langsam weiter, wahrscheinlich nicht schneller als 40. Auch die entgegenkommenden Züge schleichen dahin. Das Gebummel dauert eine ganze Weile, ehe wir wieder beschleunigen. Bis zum ersten Halt stehen schon +27 auf dem Zähler und diverse Anschlüsse sind weg. Abgesehen von den Anschlusszügen werden keine Infos auf Englisch erläutert, sodass mir das Problem unklar bleibt.
Die Zeit fließt dahin, die Landschaft fliegt vorbei, die Schneedecke weicht nur noch kleinen Resten im Schatten, das Eis wird dünner und das tiefblaue Wasser der Seen wird sichtbar. Abermals legen wir einen Abschnitt im Schneckentempo zurück und die Verspätung steigt weiter. Zum Glück habe ich in Kopenhagen zwei Stunden Mittagspause eingeplant und muss wegen der Verspätung nicht nervös werden.
Schließlich lasse ich den Winter leider komplett zurück, die Seen erstrahlen in der Mittagssonne. Wir überqueren die Öresundsbrücke und die Fahrt endet mit +30 in Kopenhagen. Der Müll wird bereits eingesammelt, während die letzten Fahrgäste den Zug verlassen, denn in 20 Minuten wird der Zug schon die Rückfahrt antreten.
Ich gönne mir ein paar Teigtaschen beim Chinesen in Bahnhofsnähe und bin der einzige Europäer im Restaurant. Gemütlich kehre ich zum Bahnhof zurück und warte auf die Gumminase nach Hamburg. Kopenhagen hat eine sehr ruhige Bahnhofshalle, denn dort gibt es kaum Ansagen. Nur das Stimmengewirr der Passanten, das Scharren der Koffer und Flattern der Tauben sorgen für Hintergrundgeräusche. Die Abfahrtszeit rückt näher, noch ist kein Zug in Sicht. Er wird mit +4 angekündigt, kommt dann auch.
Die im DB Navigator prognostizierte mittlere Auslastung stimmt, etwa die Hälfte der Sitzplätze ist belegt.

Und weiter geht’s durch den sonnigen Nachmittag, der in einen sonnigen Abend übergeht. Wir sind wieder pünktlich, passieren die Grenze, während die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwindet. Nanu, kein Betriebshalt, keine Polizei? Offenbar hat man wichtigere Aufgaben gefunden, als 50 km mit dem Auto durch die Gegend zu gondeln, um Ausweise an einer Grenze innerhalb des Schengenraums zu kontrollieren.

Die Rendsburger Hochbrücke hebt sich als dunkler Schattenriss vor dem Abendrot ab, welch ein prächtiger Anblick. Aufgrund von Bauarbeiten in Hamburg wird der Zug ab Neumünster über Bad Segeberg und Bad Oldesloe umgeleitet, eine neue Streckenbefahrung für mich, aber leider schon im Dunkeln.
Hamburg rückt näher und die Ankunft wird angekündigt, doch dann gibt es erst noch Gebummel und Stop and Go, das sich ewig hinzieht. «Boah, das ist echt der langsamste Zug, den ich je erlebt hab», stöhnt jemand. Tatsächlich dauert es noch eine Viertelstunde, ehe wir mit +10 am Bahnsteig halten. Wegen der Bauarbeiten fahren nur sehr wenige Züge zum Hbf, auch mein NJ startet erst in Harburg. Also nehme ich die S-Bahn. Ich habe einen heftigen Kulturschock erwartet und so ist es auch – alle glotzen brav hinter ihrer FFP2-Maske aufs Handy, ein Mann labert ununterbrochen wirres Zeug vor sich hin, ein anderer Mann bittet in gleichgültigem Tonfall um eine Spende und zerrt beim Gehen durch den Waggon einen Hund hinter sich her.
In Hamburg-Harburg wartet noch der NJ Richtung Österreich, der erst mit +5, dann mit +25 angekündigt wird.
Einer der Schaffner zündet sich noch eine Zigarette an, doch blöderweise geht kaum eine Minute danach das Signal auf Fahrt und er kann sie nicht zu Ende rauchen. Abfertigung und ab geht’s in die Nacht.
Nur von meinem NJ fehlt jede Spur, die Abfahrtszeit verstreicht, ohne dass es Infos gibt. Ich bekomme allmählich Durst, doch die nahe Umgebung gibt nur einen fast leeren Getränkeautomaten her – Red Bull ist dann vielleicht doch nicht die optimale Wahl für die Nachtzugfahrt. Auch die obligatorische Piss-Ecke nebst Baustellenzaun darf natürlich nicht fehlen, obwohl es hier ja sogar ein öffentliches WC gibt (was es in Skandinavien an nahezu jedem Bahnhof gibt).
Und was will man dem potenziellen Fahrgast mit dieser Deko mitteilen?
Als die Abfahrt 10 Minuten überschritten ist, verkündet Blechelse die Abfahrt mit +10. Wow, echt jetzt? Die Minuten verstreichen, Güterzüge rumpeln durch den Bahnhof, Metronome kommen und wenden. Ein Mann schiebt seinen Koffer auf und ab, eine halbe Stunde verstreicht. Blechelse verkündet nun +35. Im DB Navigator steht +35 wegen verspäteter Bereitstellung, na sag doch sowas nicht… Wieder verstreichen die Minuten. «Wann kommt unser Zug?», fragt ein Mädchen. Und immer mit dem Koffer auf und ab, auf und ab. Allmählich wird es kalt, wofür braucht man schon beheizte Warteräume? Die kosten nur Geld und man steckt sich mit Corona an. Da will ich einfach nur möglichst schnell durch Deutschland durchfahren, aber die Bahn will das nicht so wie ich es will. +45. «Wann kommt denn unser Zug endlich?»
Nach einigen weiteren Minuten dann die manuelle Ansage: «Auf Gleis 4 fährt ein: NJ nach Zürich, Abfahrt 21:04 Uhr.» Blechelse wiederholt das noch dreimal, dann taucht er endlich auf. Während ich mein Gepäck zur Tür schleppe, erkundigt sich das Pärchen vor mir: «Wissen Sie, wie die Tür aufgeht?» Rohe Gewalt ist die einzige Lösung bei Drehfalttüren und siehe da, es funktioniert.
Ich teile mir den Liegewagen mit einem Mann Mitte 30, der eigentlich erwartete dritte Fahrgast ist nicht gekommen. Er kommt aus Lübeck, fährt regelmäßig mit dem Nachtzug, mal zum Skifahren nach Österreich, mal zum Wandern in die Schweiz, mal mit Motorrad in den Süden. Jetzt fährt er eine Freundin bei Konstanz besuchen. Er hätte auch den Flixbus im Auge gehabt, für nur 21€ von Hamburg aus. «Aber zehn Stunden Bus fahren ist ja auch nicht so toll und wenn da einer Corona hat, hats ja nachher der ganze Bus.» Da würde er ein Abteil vorziehen. Für die Rückfahrt wäre der Liegewagen ausgebucht bzw. nur noch Frauenabteile verfügbar gewesen. «Das finde ich ganz schön diskriminierend, dass man keine reinen Männerabteile auswählen kann. Wenn ich keine andere Wahl gehabt hätte, hätte ich das trotzdem gebucht und das Ganze dann im Zug diskutiert.»
Dass die Autozüge der DB nicht rentabel genug waren, kann er überhaupt nicht nachvollziehen. «Bei dem Preis…» Als Motorradfahrer würde er jedenfalls die Nachtzüge sehr schätzen, denn 1000 km geradeaus fahren wäre sehr anstrengend und würde keinen Spaß machen. Bis zum Nordkap ist er auch schon gefahren, findet Norwegen ein tolles Reiseland. Viele Kurven, das wäre schön zu fahren und in der Motorradkleidung wäre das kühlere Wetter des Nordens viel angenehmer als Italien. «Auf unserer ersten Tour sind wir durch Schweden nach Norden gefahren und haben immer gedacht: ‘Ganz schön teuer hier!’ Was wirklich teuer ist, haben wir dann gemerkt, als wir in Norwegen angekommen sind!» Diese Beschreibung kommt mir von meiner ersten Skandinavienreise 2015 nur allzu bekannt vor. Inzwischen bin ich halt Schweizer Preise gewohnt, da schockt mich Norwegen auch nicht mehr wirklich. Wir kommen auf die Basler Fasnacht (sozusagen die dortige Interpretation von Karneval) zu sprechen und dass es auch Stimmen gab, die sie ein drittes Mal absagen wollten. Allerdings nicht wegen Corona (die meisten Einschränkungen wurden in der Schweiz bereits kurz nach meine Abreise Mitte Februar aufgehoben), sondern wegen des Kriegs in der Ukraine. «Ich feier lieber jetzt und genieße es, bevor der dritte Weltkrieg ausbricht.»
Wir halten in Bremen, der sternenklare Himmel zieht bald wieder vor dem Fenster vorbei. Zeit zum Schlafen.
Ich schlafe erfreulich gut, war auch müde genug. Auf das Klopfen der Schaffnerin reagiert mein Mitreisender viel schneller, obwohl ich unten bin und er oben ist. Meine Ohrstöpsel haben ganze Arbeit geleistet. Wie ich es schon gestern Abend befürchtet und beim Dösen vermutet habe, ist die Verspätung nicht abgebaut worden, ganz im Gegenteil. Und mit +78 endet die lange Reise schließlich da, wo sie begonnen hat.
Die Lok zur Weiterfahrt nach Zürich wird bereitgestellt. Das Leben geht seinen gewohnten Gang weiter.
Fazit
Die Herzlichkeit und Offenheit der Norweger habe ich genauso angenehm erlebt wie die der Schweden. In Nordnorwegen dagegen waren die Englischkenntnisse überraschend schlecht – damit habe ich nicht gerechnet, vermutlich arbeiten dort aber auch viele Ausländer.
Gar nicht begeistert waren wir von der Bausubstanz. Die Häuser sind oft hellhörig, haben keine Zentralheizung (nur elektrische Heizkörper oder -lüfter) und vor allem ist die Isolation unterirdisch. Dass man im hohen Norden, wo fast das gesamte Jahr geheizt wird, einfachverglaste Fenster verbaut, ist mir einfach unverständlich. Auch Lüften war immer wieder ein Problem – das scheint nicht vorgesehen zu sein. Entweder lassen sich die Fenster gar nicht oder nur geringfügig öffnen oder sie sind so zugestellt, dass man nicht drankommt. Auch wenn mein Gastgeber in Oslo meinte, dass Strom in Norwegen sehr teuer wäre, fällt es mir schwer, das zu glauben. An vielen Häusern, teilweise auch in den Wohnungen, brennen Tag und Nacht diverse Lichter und die ganzen Heizlüfter müssen einen immensen Stromverbrauch haben.
Und hoher Stromverbrauch bringt in Norwegen gewisse Tücken mit sich. Die maximale Leistung scheint in vielen Häusern relativ niedrig zu sein, denn in der einen Unterkunft durften nicht Waschmaschine und Heizung gleichzeitig laufen, in der nächsten nicht Backofen und Kaffeemaschine und die Sicherung ist uns beim Kochen auch zweimal geflogen…
Zumindest beschränkt sich Elektromobilität nicht nur auf Teslas – in Oslo und Trondheim ÖV-seitig leider hauptsächlich auf Elektrobusse, während Bergen stark auf den Stadtbahnausbau setzt. Zumindest sind in Oslo keine Streckenstilllegungen mehr zu befürchten, auch wenn der Gleiszustand vielerorts zu wünschen übriglässt und auch der Straßenzustand im Gleisbereich oft katastrophal ist. Anderswo in Norwegen werden dagegen spektakuläre und kostenintensive Straßenausbauten stark vorangetrieben und die Infrastruktur konsequent verbessert – da werden viele Milliarden in Tunnels gesteckt.
Die U-Bahn in Oslo dagegen hat im Gegensatz zur Tram eine Geschichte konsequenten Ausbaus hinter sich. Eigentlich ist der Begriff U-Bahn nicht wirklich passend, denn ein Großteil des 86 km langen Netzes verläuft oberirdisch. Dabei ist der historische Hintergrund recht interessant – das Osloer U-Bahnnetz geht vor allem im Westen der Stadt auf Vorortbahnen zurück, während im Osten der Stadt größtenteils schon als U-Bahn-Standard gebaut wurde. 1977 wurde der Innenstadttunnel eröffnet, allerdings waren die beiden Netze noch nicht miteinander verbunden, da im Osten mit Stromschiene, im Westen noch mit Oberleitung elektrifiziert war und die Züge aus dem Osten wendeten in einer unterirdischen Wendeschleife, die bis heute existiert. Später wurden die Westäste weitgehend auf U-Bahnstandard umgebaut, die Oberleitung durch eine Stromschiene ersetzt, BÜ aufgehoben und die Bahnsteige verlängert. Eine Ausnahme stellt lediglich die Strecke nach Frognerseteren dar, die noch zahlreiche BÜ und höhengleiche Querungen aufweist sowie Bahnsteige, die nur für 2 Wagen ausgelegt sind. Die Türen im ersten oder letzten Wagen bleiben dann beim Halt verschlossen.
Nach Jahrzehnten des Stillstands und endloser Verzögerungen soll nun auch endlich Trondheim – Storlien/ Stjørdal bis 2024 elektrifiziert werden. Man darf gespannt bleiben, ob es diesmal gelingt.
Für Norwegen gilt beim ÖV jedenfalls ein ähnlicher Grundsatz wie in Schweden – in den Großstädten ist er sehr gut, im dünn besiedelten Norden kommt man zwar in die größeren Orte, braucht aber viel Zeit und hat nicht viele Verbindungen zur Auswahl. Zur Routenplanung empfiehlt sich landesweit entur.no.
Mit meinem zweiten Besuch in Norwegen konnte ich mir einen langjährigen Wunsch erfüllen – nämlich die Streckenbefahrungen Bodø – Trondheim und Trondheim – Östersund – (Stockholm), die ich beide bereits für meine erste Skandinavientour in 2015 geplant hatte, aber aus Zeitgründen damals weglassen musste. Ich habe es nicht bereut. Ganz abgesehen davon bleibt auf der Liste meiner bisher besuchten Länder ganz klar Norwegen das einzige Land, dass landschaftlich mit der Schweiz mithalten kann.
Ein weiterer Punkt, in dem Norwegen wohl zusammen mit der Schweiz einsame Spitze ist, sind die Preise. Diese Reise dürfte das höchste Budget pro Tag gefordert haben, dass ich je auf einer Reise gebraucht habe. Norwegen ist völlig zurecht bekannt für die hohen Preise, auch wenn wir durch Selbstversorgung zumindest die absurden Kosten für Restaurants umgehen konnten. Allzu groß war der Preisschock für mich aber nicht, ich bin ja inzwischen Schweizer Preise gewohnt.
„Skandinavien muss man mal im Winter gesehen haben“, habe ich schon vor Langem mal aus dem Verwandtenkreis gehört. Und ich kann dem nur zustimmen – mit kalten Temperaturen und widrigem Wetter sollte man aber keine Probleme haben. Autofahren im Winter ist auch nur was für Unerschrockene – Nebel, Schneesturm, Eis und Co. sind ständige Begleiter auf den winterlichen Straßen und einige Male hatte ich das Gefühl, dass die Einheimischen etwas überrascht waren, als wir von unserer Reiseroute mit den langen Autofahrten erzählt haben.
Der viele Schnee, die tiefstehende Sonne, die faszinierende Winterlandschaft, die Polarlichter – es fällt mir schwer, zu entscheiden, was mein persönliches Highlight war. Jedenfalls war es eine wunderbare Reise. Für mich bleibt ein weiterer Besuch im skandinavischen Winter weit oben auf der Reiseliste.
Statistik
Gefahrene Bahnkilometer: 5740
Planmäßige Gesamtfahrzeit: 66h 42 min
Reisegeschwindigkeit: 86 km/h
Gesamtverspätung (analog FGR): 127 min
Flugtickets: 322 €
Fahrkarten: 251 €
Reservierungen: 161 €
ÖPNV und Bus: 147 €
Fahrtkosten gesamt: 882 €
Kosten pro Bahnkm: 7,2 Cent