Iarn @ 19 Jul 2016, 14:46 hat geschrieben:Ich denke die Vermischung von "normalen" Amokläufen und Selbstmordattentaten ist ein Trend der jüngeren Vergangenheit und keine Vermischung meinerseits.
Das hängt davon ab, unter welcher Warte, unter welcher Sternchenfrage diese Themen betrachtet werden. In diese Diskussion jedenfalls bist Du der erste, der den Terrorismus mit Sprengstoffwesten in Verbindung gebracht hat. Ob diese Gefährdung beim konkreten Polizeieinsatz bedeutend war, weiß ich nicht, das Stellen des Täters, der Schutz weiteren Lebens dürfte auf jeden Fall oberste Handlungsmaxime der Polizisten gewesen sein. Diese kann auch (!) tödliche Gewalt mit sich bringen - kann, nicht muss und sollte es natürlich nicht. Hängt ab von der konkreten Situation. Davon hatten wir es wenigstens zu Anfang hier.
Jetzt, wo mehr Details ans Licht kommen, auch Wissen über den Täter hinzu kommt, kann und sollte man mehr differenzieren, auch da Stand jetzt ein islamistischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden (selbstgekritzelte "ISIS"-Flagge, Propagandainanspruchnahme der Tat). Sprengstoffwesten sind allerdings eine recht spezifische Tatdurchführung, die in der westluchen Welt recht neu und selten ist. In D sind sie wohl nie zum Einsatz gekommen.
Taten mit dem Ziel, Unschuldige zu töten und dann einen großen Abgang zu machen, gibt es in Deutschland seit den 1910er-Jahren, begünstigt durch die weitere Verbreitung von modernen Waffen. Insoweit ist das nichts Neues.
Mit Columbine sind Amokläufe ("school shootings") ins kollektive Bewusstsein gerückt, in D sind vor allem Erfurt und Winnenden/Wendlingen prägend gewesen. Sie haben u.a. veränderte Einsatztaktiken der Polizei hervorgebracht, die (m.M.n.) hier angewendet wurdem; es wurden auch breit emotionale Debatten geführt mit "guten" (z.B. Sensibilisierung gegenüber der privaten Lagerung von Schusswaffen) und "schlechten" (z.B. "Killerspiele" produzieren Amokläufer) Strängen.
In der sog. westlichen Welt noch recht neu sind die Erscheinungen, solche ziellose Tötungen als quasi-politisches Mittel einzusetzen; üblicherweise werden sie mit islamistischem Terror in Verbindung gebracht wird, z.B. im Irak oder auch in Frankreich.
Wie geschrieben, es gibt Überschneidungen, im Wesentlichen in der Durchführung: ein Prozess der "Radikalisierung" findet statt, Unschuldige werden ziellos getötet, der große Abgang.
Und es gibt Unterschiede: die Täter sind auf der einen Seite typischerweise isolierte Einzelgänger, auf der anderen Seite reichen sie vom "lone wolf" bis hin zu vernetzten Profis mit spzifischem Knowhow; die Motivation ist auf der einen Seite als individuelle Rache und einmal das letzte Wort zu haben verkürzt zu beschreiben, während auf der anderen Seite eine breiter zu fassende soziale (Kämpfe für den vermeintlich wahren Islam) und politische (Destabilisiere den bösen Westen) Dimension mit rein spielt; während auf der einen Seite Selbstötung eine übliche Exitstrategie ist (-> letztes Wort haben), muss wimre auf der anderen Seite im Kampf gestorben werden, um als Märtyrer die berühmten 72 Bunnies zu bekommen; auch in den eingesetzten Waffen gibt es i.A. Unterschiede.
Diese Unterscheidung, das Wissen um die Unterschiede halte ich deswegen für so wichtig, um die gewonne Sensibilisierung gegenüber möglichen Amoktätern nicht der potentiell hysterischen Terrorangst zum Fraß vorzuwerfen. Für solche "potentiellen" (Anführungszeichen um klar zu machen, dass dies ein Prozess ist, nichts, wo es "einfach lick macht und man am nächsten Tag ausflippt) Täter wurden Strukturen geschaffen, um diesen (wahrscheinlich spezifischen) Prozess zu durchbrechen. Die nach Winnenden gewonne Sensibilisierung zur Prävention von Amokläufen sollte, nein darf nicht mit der Angst vor religiös radikalisierten Jugendlichen vermischt werden.
Speziell beim vorliegenden Fall kommt noch hinzu, dass ein terroristischer Hintergrund nicht sicher ist (
tagesschau.de dazu). Schon wieder hat einer "allahu ackar" gerufen? Der Ausruf hat ein breites Bedeutungsspektrum, dass im Deutschen kaum mit einem solchen gefüge wiedergegeben werden (
die SZ dazu im Zusammenhang mit der Messerattacke in Grafing), angefangen bei "Gott sei Dank" bis hin zu "Herr, gib mir die Kraft, diese Prüfung zu meistern".
Generell sehe ich da die Gefahr, zu schnell Schlüsse zu ziehen und dann falsch zu schubladisieren: War's ein Moslem? Dann ist ja alles klar. Das war ein Flüchtling? Merkel hat die vier Opfer auf dem Gewissen. SEK war zufällig in der Nähe? Solche Zufälle kann's nicht geben. Der Flüchtling war vielleicht traumatisiert? Mein Opa ist nach der Kriegsgefangenschaft auch nicht ausgerastet. Einer Muslim betet für sich im Zug? Dann doch lieber prophylaktisch zuschlagen, wer weiß, ob er nicht vielleicht doch...
Bitte nicht falsch: Ich will damit nicht sagen, dass keine Fragen gestellt werden solle. Die Künast-Frage ist genau so wichtig wie die Frage, ob es irgendwelche Parallelen oder Zusammenhänge zu Amoktaten gibt. Vielleicht ergibt sich da etwas für die Prävention raus. Es muss aber auch klar sein, dass es auf solche Fragen weder schnelle noch einfache Antworten gibt. Im medial geführten, allgemeinen Diskurs sind aber Zuspitzungen, Vereinfachungen und Personalisierungen gefragt (Simplex: Es heißt nicht, die Frage nach angemessenem Verhalten der Polizei wurde aufgeworfen, sondern Künast hat getwittert, das hat einen Shitstorm gegeben und der DPolG-Wendet hat zur Abwechslung mal was gesagt, was fast so etwas Ahnliches wie nahe dran war an etwas Sinnvollem).
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@ JeDi und NJ Transit: Steht denn irgendwo genauer, wie die der Täter gestellt wurde oder wie viele Kugeln ihn trafen?
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Klarstellung nach der Lektüre Fichtenmopeds Beitrages: Mein Eintrag entstand vor der Pressekonferenz.