Tarifv.2016/17, GDL: DB hat ihre Chance vertan

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NJ Transit
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Beitrag von NJ Transit »

Gegen welches EU-Recht sollte das denn verstoßen? Das Spiel heißt nicht "ich suche mir ein Geicht aus, das für mich positiv urteilt".
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hmmueller
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Beitrag von hmmueller »

Rein prinzipiell könnte man nur zum ECHR gehen und mit Aufweichung der Übereinkunft 98 (Artikel 4 - http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/--....ms_c098_de.htm) argumentieren (nicht dass ich das im Entferntesten für erfolgversprechend hielte ...).
Gegen EU-Recht verstößt das sicher nicht.
Meine Eisenbahngeschichten - "Von Stellwerken und anderen Maschinen ..."
Die Organe der Bahnerhaltung sind ermächtigt, den Arbeitern zur Aneiferung angemessene Quantitäten von Brot, Wein oder Branntwein unentgeltlich zu verabfolgen. Nr. XXVII - Vorschriften für das Verhalten bei Schneefällen, K. k. Österreichische Staatsbahnen, Gültig vom 1. Oktober 1906; Artikel 14(5)
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Beitrag von ms0815 »

Iarn @ 11 Jul 2017, 10:38 hat geschrieben:Süddeutsche Bundesverfassungsgericht billigt Tarifeinheitsgesetz weitgehend

Auch wenn es sich noch ein wenig rütteln und schütteln muss und die Änderungen die das Bundesverfassungsgericht gefordert hat im Detail betrachtet werden müssen. Ich denke, die Grundsatzentscheidung ist relativ klar und bedeutet eine deutliche Schwächung von Spartengewerkschaften wie GDL, Cockpit oder Marburger Bund.
Ganz so klar scheint es noch nicht zu sein.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/...-a-1157252.html
Das Urteil macht deshalb im Detail wichtige Vorgaben, die dafür sorgen, dass die Minderheitengewerkschaften weder ihr Streikrecht noch ihre Existenzberechtigung verlieren.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/...-a-1157191.html
Der dbb erwägt deshalb eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
"Der Angriff auf Berufsgewerkschaften ist in erster Linie abgewehrt", sagt Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft GDL. "Wir fühlen uns als Berufsgewerkschaft gestärkt und anerkannt", sagt auch Rudolf Henke, Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund.
Es wurden wieder mal viele Klarheiten beseitigt und viel Unsicherheit geschaffen.
Jogi
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Beitrag von Jogi »

ms0815 @ 12 Jul 2017, 09:42 hat geschrieben:Ganz so klar scheint es noch nicht zu sein. [...]

Es wurden wieder mal viele Klarheiten beseitigt und viel Unsicherheit geschaffen.
Es lohnt sich auf jeden Fall, eine Viertelstunde Zeit zu nehmen und die Pressemitteilung des BVerfG durchzulesen, in der die Begründung zwar recht ausführlich, aber auch für Laien im Wesentlichen verständlich dargelegt wird.

Daraus einige Zitate - wohlgemerkt ohne den Anspruch, dass Urteil umfassend zu kommentieren:

Der erste Abschnitt zeigt schon die gewisse "Schizophrenie" dieses Gesetzes auf, es stellt keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit dar, so dass kleinere Gewerkschaften weiter ihrem Recht und ihren Aufgaben nachkommen können. Gleichzeitig greife die
Regelung zur Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall [...] in die Koalitionsfreiheit ein. Sie kann außerdem grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen entfalten[,]
was im Wesentlichen den vorgebrachten Punkten gegen das Gesetz entspricht: potentiell niedrigere Motivation zur Mobilisierung, damit mangelnde Attraktivität für neue Mitglieder, Existenz der Spartengewerkschaften auf lange Sicht in Gefahr.
Dagegen wird das in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck ausüben zu können, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen, durch das Tarifeinheitsgesetz nicht angetastet. Die Unsicherheit im Vorfeld eines Tarifabschlusses über das Risiko, dass ein Tarifvertrag verdrängt werden kann, begründet weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft bei Arbeitskampfmaßnahmen. Dies haben die Arbeitsgerichte gegebenenfalls in verfassungskonformer Anwendung der Haftungsregeln sicherzustellen.
Streiks sind also weiterhin möglich. Stellen sie sich am Ende als unnötig heraus, weil der Tarifabschluss verdrängt werden würde, gilt - salopp formuliert - dumm gelaufen.
Das Passus, das Arbeitsgerichte die konkrete Auslegung des Tarifeinheitsgesetzes sicherstellen sollten, wurde häufig kritisiert. Darin wurzelt die von meinem Vorposter kritisierte Unklarheit, dieses Gesetzes sowie das BVerfG-Urteil mit sich bringen.
Zweck des Gesetzes ist es, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden. Damit verfolgt der Gesetzgeber das legitime Ziel, zur Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander zu regeln. Die angegriffenen Regelungen sind geeignet, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn nicht gewiss ist, dass der gewollte Effekt tatsächlich eintritt.
Das wird zwar im Folgenden noch weiter begründet, aber bis hierher sollte man sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Es gibt ein legitimes Ziel, nur ob es mit dem gewählten Instrument eintritt, ist nicht wirklich klar. Kann klappen, muss aber nicht.
Die weitere Begründung liest sich so:
Es bestehen auch keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken gegen ihre Erforderlichkeit. Jedenfalls steht kein zweifelsfrei gleich wirksames, Gewerkschaften und ihre Mitglieder aber weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung, um die legitimen Ziele zu erreichen.
aa) Das Gewicht der Beeinträchtigung durch die Regelungen ist dadurch relativiert, dass es die Betroffenen in gewissem Maße selbst in der Hand haben, ob es zur Verdrängungswirkung kommt oder nicht. Die Verdrängungsregelung ist tarifdispositiv[Verlinkung durch mich]; allerdings müssen dazu alle betroffenen Tarifvertragsparteien vereinbaren, dass die Kollisionsnorm nicht zur Anwendung kommt.
bb) Zudem ist die Verdrängungswirkung im Fall der Tarifkollision im Betrieb schon nach der gesetzlichen Regelung mehrfach beschränkt. Darüber hinaus sind die Arbeitsgerichte gehalten, Tarifverträge im Kollisionsfall so auszulegen, dass die durch eine Verdrängung beeinträchtigten Grundrechtspositionen möglichst weitgehend geschont werden. Wenn und soweit es objektiv dem Willen der Tarifvertragsparteien des Mehrheitstarifvertrags entspricht, eine Ergänzung ihrer Regelungen durch Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften zuzulassen, werden diese nicht verdrängt. Besteht Grund zu der Annahme, dass Regelungen kollidierender Tarifverträge nebeneinander bestehen sollen, findet die Verdrängung dort nicht statt.
Damit ist es prinzipiell möglich, dass beispwielse die DB, die mitgliederstrkste EVG und die GDL beschließen, das "Sparten-enfant terrible" könne weiterhin einen "vollwertigen" Tarifvertrag für seine Mitglieder erkämpfen.

Als weitere Einschränkung, die der Gesetzgeber nachbessern muss, gibt es einige Aspekte, die nicht verdrängt werden dürfen. Dafür könnten die kleinen Gewerkschaften weiterhin streiken - eigentlich das, wofür Cockpit recht prominent eingetreten ist:
Um unzumutbare Härten zu vermeiden, dürfen bestimmte tarifvertraglich garantierte Leistungen nicht verdrängt werden. Das betrifft längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen, wie beispielsweise Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit. Der Gesetzgeber hat dafür keine Schutzvorkehrungen getroffen. Hier müssen die Gerichte von Verfassungs wegen sicherstellen, dass die Verdrängung eines Tarifvertrags zumutbar bleibt. Lassen sich die Härten nicht in der Anwendung des für die weitere Gewährung solcher Leistungen maßgeblichen Rechts vermeiden, ist der Gesetzgeber gehalten, dies zu regeln.
"Shizo" ist irgendwie auch das hier:
Die beeinträchtigende Wirkung wird auch durch die Auslegung der Kollisionsregelung gemildert, wonach die Verdrängung eines Tarifvertrags nur solange andauert, wie der verdrängende Tarifvertrag läuft und kein weiterer Tarifvertrag eine Verdrängung bewirkt. Der verdrängte Tarifvertrag lebt danach für die Zukunft wieder auf. Ob dies anders zu beurteilen ist, um ein kurzfristiges Springen zwischen verschiedenen Tarifwerken zu vermeiden, müssen die Fachgerichte entscheiden.
DB und EVG einigen sich nicht rechtzeitig auf einen neuen Tarifvertrag, plötzlich gilt das Reglement mit der GDL? Und zwei Wochen später dann nicht mehr? Meine Güte...
Die Ungewissheit des Arbeitgebers über die tatsächliche Durchsetzungskraft einer Gewerkschaft aufgrund deren Mitgliederstärke ist für die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Parität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite von besonderer Bedeutung. Das neu geregelte Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG geht mit dem Risiko einher, dass es zur Offenlegung der Mitgliederstärke der Gewerkschaften kommt. Die Fachgerichte müssen die prozessrechtlichen Möglichkeiten nutzen, um dies möglichst zu vermeiden. Wenn dies nicht in allen Fällen gelingt, ist das mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel jedoch insgesamt zumutbar.
Die genauen Mitgliederzahlen sollen nicht bekannt werden. Eigentlich. Also so weit es vor einem Arbeitsgericht geht. Und wenn doch, ist halt auch das dumm gelaufen. Gibt's da ein besseres Wort als "shizo"?

Klar dürfte sein, dass in der aktuellen Form neue Unsicherheiten geschaffen wurden, die konkret vor den Arbeitsgerichten geklärt werden und damit den Rahmen konkret ausfüllen. Muss nicht schlechtes sein, ein G'schmäckle lässt sich aber nicht abstreiten: Nervige Streiks legen das öffentliche Leben lahm? Danm muss ein Gesetz her, was der Bund "mal eben" macht.

Und genau hier sehe ich ein Problem: Streiks können nicht verboten werden, die Spartengewerschaften können weiter für die Interessen ihrer Mitglieder eintreten. So weit nicht überraschend. Ein Riegel, dass die Streiks wieder derart eskalieren und der Flug- oder Bahnverkehr zu großen Teilen zum Erliegen kommt, wird damit nicht vorgeschoben, obwohl solche "Leitplanken", wie es Frank Bräutigam in seinem "Tagesthemen"-Kommentar gestern genannt hat, durchaus möglich sein müssten. Genau das dürfte doch das allgemeine Interesse sein, um die Verhältnismäßigkeit der Streiks zu wahren.

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Kleine Presseschau zu dem Thema:
Bei der "Tagesschau" liegt ein Schwerpunkt auf den Reaktionen der verschiedenen Parteien. Viel zitiert wurde das Statement von Claus Weselsky:
Er sagte, zwar habe sich die GDL gewünscht, das Gesetz wäre klar zurückgewiesen worden. Allerdings gehe für die GDL nach den Vorgaben des Gerichts vom dem Gesetz keine Gefahr mehr aus. "Die nächsten 150 Jahre sind bei uns gesichert", freute sich Weselsky, der "Angriff auf die Berufsgewerkschaften" sei "in erster Linie abgewehrt".
Auf der Seite ist auch der angesprochene Kommentar von Frank Bräutigam sowie seine Einschätzung, jeweils als Video, abrufbar.
Recht ähnlich sieht es die "Süddeutsche" die gleich in der Überschrift betont, Karlsruhe stärke die kleinen Gewerkschaften:
Die Wahrheit ist: Das Gesetz ist keineswegs verfassungsgemäß, es ist sogar ziemlich grundgesetzwidrig - und war nur zu retten, weil die Richter es an allen Ecken und Enden so zurechtgebogen haben, dass es gerade noch in den Rahmen des "Gewerkschafts-Artikels" im Grundgesetz passt. Verfassungskonforme Auslegung nennt man das, eine schonende Methode, Gesetze durch die Brille des Grundgesetzes zu lesen, um sie nicht mit großem Aplomb einstampfen zu müssen.
In dem Kontext sei auch auf die abweichende Meinung zweier Richter ausdrücklich verwiesen, die in der BVerfG-PM auch dargestellt wird. Neben deren Meinung, dass der Gesetzgeber und nicht die Arbeitsgerichte das konkrete "Auffüllen" übernhmen soll, befürchten sie auch langfristig eine neue Konkurrenz unter den Gewerkschaften:
Es ist fraglich, ob die angegriffenen Regelungen geeignet sind, das Ziel der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber heftigere Konkurrenzen und Statuskämpfe in einzelnen Betrieben provoziert, erscheint hoch.
Das wiederum unterläuft das angestrebte Kooperieren der Gewerkschaften untereinander, welches der "Tagesspiegel" betont.

Ein allgemeiner Überblick über die Thematik der "Tarifeinheit" findet sich bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Mal schauen, was mit dem ins Nest gelegte Ei an langfristigen Folgewirkungen für die Tarifautonomie und -pluralität entstehen. Was man wohl sagen kann: Die Chance für "verhältnismäßigere" Streiks zu sorgen, so dass beispielsweise in den ersten zwei Wochen 20 Prozent der Zug-/Flug-/Krankenhaus-Leistungen erbracht werden müssten, hat man verpasst.
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