Wie mir die Bahn eine Stunde klaut und doch neun Stunden schenkt
Es ist mal wieder so weit, quer durch Deutschland zu fahren. Mehr als neun Stunden für 640 Kilometer – schnell ist etwas Anderes. Aber der attraktive Preis spricht für sich.
Es ist ein warmer Sommertag, als ich am Dresdner Hbf wenig erfreut den Dreiteiler auf dem RE 3 nach Hof erblicke. Der kurze Mops war schon auf meiner letzten Fahrt hoffnungslos unterdimensioniert, vor allem freitags.
Nachdem der Rucksack vom Sitz verscheucht ist, nehme ich am Tisch bei zwei Studenten Platz. Ich ruhe meinen Kopf ein wenig von der gerade überstandenen Prüfung aus und lasse meine Gedanken schweifen.
Dong. R E Drei über Tharandt Freiberg Sachsen Flöha Chemnitz Hauptbahnhof Glauchau Sachsen Plauen Vogtland oberer Bahnhof nach Hof Hauptbahnhof. Nächster Halt: Tharandt. „Verehrte Fahrgäste, aufgrund des kurzen Zuges bitten wir Sie, alle Gepäckstücke von den Sitzen zu räumen, damit alle einen Platz finden. Vielen Dank.“ „Alsö ich tu den bestimmt nieh hoch“, kommentiert einer der Studenten an meinem Tisch und deutet auf seinen Wanderrucksack auf dem Platz neben ihm. Eine Handvoll Fahrgäste muss immer noch stehen, obwohl inzwischen wirklich fast alle Sitzplätze mit Reisenden besetzt sind. „Aufgrund der hohen Auslastung hebe ich die 1. Klasse auf. Fahrgäste, die noch keinen Sitzplatz haben, dürfen sich auch in die 1. Klasse setzen.“
Das zumindest muss man der MRB lassen. Obwohl auf meinen Fahrten bisher selten alles reibungslos geklappt hat, ist das Personal stets hoch motiviert und hilfsbereit.
Ich erkundige mich bei der Fahrkartenkontrolle, ob denn nur ein Dreiteiler bestellt ist (in Sachsen könnte ich mir sowas durchaus vorstellen) oder ob es Probleme mit der Fahrzeugverfügbarkeit gibt. „Ach, wissen Sie, das hat jemand im Büro so entschieden. Das entscheiden Leute, die nie mit der Eisenbahn fahren.“
Die Studenten unterhalten sich über wenig interessante Themen und wer welche Prüfung nicht bestanden hat. Schließlich zaubert einer der beiden eine Bierflasche aus seinem Rucksack hervor. Der andere tut es ihm gleich. „Dein Bier ist irgendwie viel besser gekühlt, dabei hab ich es doch och noch in den Kühlschrank gelegt.“ Kling. Prost.
Das Rollo zum Führerstand ist oben und die 1. Klasse freigegeben. Was will ich mehr? Ich schaue dem Tf eine Weile über die Schulter. Die 1440 fahren quasi von allein, der Tf gibt nur die gewünschte Geschwindigkeit ein und bestätigt. Der Nachteil davon ist der verhältnismäßig unruhige Fahrstil, da die Automatik immer ziemlich genau die Geschwindigkeit hält und deswegen abhängig von der Längsneigung recht häufig zwischen Beschleunigen und Bremsen wechselt. Der Zub öffnet bald die Tür zum Führerstand. Ob ich was brauche? Neinnein, ich schau bloß. „Na dann vuiel Spaß!“, meint er mit bayerischem Klang.
In Freiberg dirigiert der Zub die an der ersten Tür zusteigenden Fahrgäste in die 1. Klasse, welche sich nun komplett füllt.
Im Chemnitz wird ein Tisch frei, ich ziehe um und arbeite an meiner Hausarbeit. Der Grund für die lange Fahrzeit ist eine Baustelle zwischen Glauchau und Zwickau. Deshalb wird der Zug über Gößnitz umgeleitet und der Anschluss in Hof um drei Minuten verpasst. Ab Glauchau sitzt mir ein älteres Ehepaar gegenüber. „Puh, warm…“, ächzt die Frau. In der Tat ist es hier oben auf dem Drehgestell deutlich wärmer als am anderen Tisch unten. Leider unterhalten sie sich auf Polnisch und ich verstehe kein Wort.
Der Zub geht durch und erkundigt sich, ob es jemandem zu warm sei. Die Frau meldet sich sofort, woraufhin er die Klappfenster öffnet. Die erste ältere Frau, die freiwillig ein Fenster im Zug öffnet…
Als ich zur Abfallentsorgung meinen Platz verlassen möchte, der durch das Gepäck der beiden zugestellt ist, meint die Frau: „Geht das?“ Ich klettere über ihr Gepäck und kommentiere, dass ich ja noch jung sei. „Ja, NOCH jung. Da haben Sie recht. Wir waren auch mal Kinder…“
Pünktlich erreichen wir Hof, der -3-Minuten-Anschluss hat natürlich nicht gewartet. „Auf Wiedersehen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, meint die Frau freundlich. Die 50 Minuten Aufenthalt weiß ich natürlich sinnvoll zu nutzen. Da wir genau nach dem Knoten angekommen sind, fährt jedoch erstmal kein Zug. Ich verlasse das Bahnhofsgebäude, um mir in der kleinen Grünanlage auf dem Bahnhofsvorplatz ein schattiges Plätzchen zu suchen. Doch Fehlanzeige, alle Bänke sind durch die örtliche Alte-Männer-Säufergruppe belegt. Also widme ich mich dem Busverkehr. Anschließend verschaffe ich mir noch einen
Überblick von der Fußgängerbrücke. Den wollte ich schon lange mal umsetzen. Allmählich
bildet sich der nächste
Knoten.
Pünktlich wird die Fahrt Richtung Nürnberg fortgesetzt. Heute habe ich mal Lust auf Sound und setze mich in den Großraum. DRÖÖÖÖÖÖHN! QuietschKLONG. QuietschKLONG. Ein Kind öffnet den Deckel eines Mülleimers und schlägt ihn anschließend wieder zu. „Jetzt hör mal bitte auf. Das ist kein Spielplatz.“ Doch die Mutter bleibt erfolglos. QuietschKLONG. Einem zweiten Kind liest sie aus einem Buch vor. QuietschKLONG. DRÖÖÖÖHN. QuietschKLONG. Mit dieser Geräuschkulisse schaukele ich die nächste halbe Stunde durch die Oberpfalz. Dann – endlich - verliert das Kind offensichtlich den Spaß am Spielen mit dem Mülleimer und wohlige Ruhe kehrt ein. DRÖÖUUUUUUUUÖÖÖÖ.
Da wir einige Male vor einem Signal zum Halten kommen, erreichen wir Nürnberg leicht hinter Plan. Durch die Unterführung begebe ich mich Richtung Anschlusszug. Doch statt am Fuß einer Treppe stehe ich vor einem Bauzaun. „Treppenaufgang zum Bahnsteig 4/5 und 6/7 gesperrt. Bitte benutzen sie den Zugang Mitte oder Ost.“ Wie praktisch, dass direkt daneben der (nicht gesperrte) Aufzug fährt. Wie unpraktisch, dass ich nicht der Einzige bin, der aus heiterem Himmel vor einem Bauzaun steht und sich denkt, wie praktisch, dass der Aufzug direkt daneben ist. In die zweite Fuhre quetsche ich mich rein, während in der Unterführung noch immer eine Menschentraube mit Gepäck wartet. Der IC nach Stuttgart steht bereits am Bahnsteig und ich nehme gleich den Steuerwagen. Ein Tisch ist noch komplett frei und ich setze mich hin, um weiter zu arbeiten. Es ist einen Tick zu warm im Wagen, zumindest etwas wärmer und stickiger als im Fahrradabteil.
Kurz vor der Abfahrt nimmt ein junges Paar auf den beiden Sitzen gegenüber Platz.
Wenig später ziehen sie eine Glückwunschkarte hervor. Auf der rechten Seite steht „…zum Geburtstag“, die linke Seite bietet Freiraum für die Kreativität des Schenkers. Die Frau platziert ein Schlampermäppchen auf dem Tisch und kramt einen türkisfarbenen Fineline Stabilo heraus. Die beiden diskutieren, wie man am besten „Alle Gute“ auf die freie Seite bekommt. Die Frau beginnt schließlich, die Konturen des A zu zeichnen. „Jetzt hast du das ganz in die Ecke gequetscht“, nörgelt der Mann, „hast du keinen Bleistift? Dann könnte man erst vorzeichnen.“ Die Frau sucht in ihrem Mäppchen und wird fündig. „Aber ich habe keinen Radiergummi. Also bringt das auch nichts.“ Sie setzt die künstlerische Aktivität fort. „Das sieht irgendwie so leer aus“, kommentiert der Mann nach dem ersten l. „Kann man das nicht ausmalen?“ „Ausmalen? Wie denn mit dem feinen Stift?“ Dennoch beginnt sie, das A zu schraffieren. Damit ist sie eine ganze Weile beschäftigt. Vermutlich wird ihr dann klar, dass die gesamte Zugfahrt nicht zum Ausmalen ausreichen wird, wenn sie in diesem Tempo weitermacht. Sie fördert einen dickeren türkisfarbenen Stabilo zutage. „Hmm, das ist aber nicht derselbe Farbton“, stellt sie wenig begeistert fest, „der ist viel dunkler.“ „Na und? Ist doch egal, solange er dunkler ist“, stellt ihr Partner fest. Sie beginnt also, das A mit dem dunkleren Türkis zu übermalen.
Während sie malt, wischt der Mann mit griesgrämigem Gesichtsausdruck auf seinem Smartphone herum. Inzwischen werden Fahrkarten kontrolliert, sie hält eine BC 50, er eine BC 25 hin. Als der Zub verschwunden ist, stöhnt der Mann: „Boah, ganz schön heiß hier drin. Haben die denn keine Klimaanlage? Und Fenster kann man auch keine öffnen…“
Als der türkisfarbene Schriftzug endlich vollendet ist, zieht sie Vorlesungsmitschriften hervor und beginnt, darin zu lesen. „Wieso sitzt du eigentlich halb auf mir drauf?“, will ihr Freund wissen. „Ich finde das schön so.“ „Aber es ist so warm…“ Sie widmet sich wieder ihren Unterlagen.
„Wie kann das denn bitte sein? Wenn wir um 10 Uhr zurückfahren, sind wir mit dreimal umsteigen schneller als wenn wir direkt fahren.“ Er hält ihr sein Smartphone unter die Nase. „Weiß ich auch nicht…“ „Das geht doch eigentlich gar nicht.“ Ich sollte mir ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Was auch immer Sie schon immer über die Bahn wissen wollten: Fragen Sie mich.“ zulegen. Nein, lieber nicht. So kann ich wenigstens frei entscheiden, wem ich weiterhelfen will und wem nicht. „Aber schau mal, das sind nur ganz kurze Umsteigezeiten. In Backnang zum Beispiel nur 5 Minuten.“ „Aber schneller als direkt? Das kann nicht sein.“ „Ich hab nächste Woche Prüfung und würde die gerne bestehen. Lässt du mich jetzt bitte lernen?“ Mit äußerst griesgrämiger Miene widmet er sich wieder seinem Smartphone. Bis Stuttgart passiert nichts mehr Interessantes, lediglich die Gewitterwolken verdunkeln die Landschaft bedrohlich. Kurz vor der Ankunft beginnt ein Regenguss.
Ich begebe mich zu meinem Anschlusszug der Neckar-Alb-Bahn. Auja, ein n-Steuerwagen hängt ganz vorne dran. Den nehme ich doch gleich, denn er ist zehnmal besser als die DBuza oder die ebenfalls nicht klimatisierte westdeutsche Variante. Leicht nach Plan
rollen wir los. Die letzten Regentropfen des abziehenden Gewitters spritzen in mein Gesicht, während wir den Stuttgarter Hbf hinter uns lassen. Diese Abkühlung ist eine willkommene Entschädigung für die Fahrt mit der Sauna-Alb-Bahn vor zwei Wochen, als ich um meinen wertvollen Reiseproviant bangen musste. Glücklicherweise überstand die Himbeer-Sahne-Torte die Fahrt in besserem Zustand als die meisten Fahrgäste und wurde im Reisezentrum in Stuttgart während der großzügigen Umsteigezeit genüsslich verzehrt.
Wenige Minuten später halten wir auch schon in Bad Cannstatt. Ich beobachte den Fahrgastwechsel aus dem Fenster. Die Zugchefin pfeift, die Türen schließen. Eine junge Frau chinesischer Herkunft entdeckt einen Regenschirm auf dem Bahnsteig. Den hat offensichtlich jemand dort vergessen. Sie wedelt aufgeregt damit herum, doch damit erreicht sie genauso viel wie die junge Frau, die noch die Treppe hochgesprintet kommt und versucht, einzusteigen. Aus irgendeinem Grund fahren wir aber nicht sofort ab. Da erkennt die Chinesin ihre Chance und kommt zu meinem Fenster. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Immer gerne. „Kannst du den einer jungen Chinesin im nächsten Wagen geben?“ Sie drückt mir den Schirm in die Hand. „Vielen Dank!“ Da kommt bereits ein junger Mann aus dem nächsten Wagen und nimmt den Schirm entgegen. Schließlich rollen wir an und die Chinesin winkt glücklich ihren Bekannten im DBuza zu. Es sind Momente wie diese, die mich daran erinnern, warum ich mich jedes Mal aufs Neue auf (fast) jede Bahnfahrt freue.
Ohne größere
Ereignisse erreiche ich schon bald mein Ziel. Waren das wirklich neun Stunden?
Die Zugchefin pfeift, die Türen gehen zu. Ein junger Mann springt in großen Sätzen über den Bahnsteig. Doch er ist zwei Sekunden zu langsam. Das weiße Licht wird geschwungen, die letzte Türe schließt und der Zug setzt sich wieder in Bewegung.