Da dieses Thema aktuell hierzuforum ziemlich eifrig und kontrovers diskutiert wird, erlaube ich mir mal dazu einen neuen Thread zu eröffnen. Er soll bewusst allgemein gehalten sein und damit die vielen parallelen Diskussionen in unzähligen Threads ersetzen, um diese leichter lesbar zu machen. Ich würde daher vorschlagen, nicht unter jeder Meldung über eine misslungene Betriebsaufnahme oder einen Zugausfall dort die Grundsatzdiskussion loszutreten. Ich habe einfach mal versucht, einige Aussagen aus verschiedenen Themen hier miteinzubauen.
Die erste Frage wäre - was ist bzw. war eigentlich mal das Hauptziel von Ausschreibungen von Verkehrsleistungen? Also abgesehen davon, dass gerade in den 90ern Privatisierung von allem einfach in war.
- Kosten senken. Anstatt die Bundesbahn rumwurschteln zu lassen im Wissen, dass sämtliche Ineffizienzen ohnehin vom Steuerzahler getragen werden, definiert der Aufgabenträger zu erbringende Verkehrsleistungen und wer das billigste Angebot macht, gewinnt. Klingt für mich grundsätzlich erstmal sinnvoll. Aber volkswirtschaftlich betrachtet würde das doch bedeuten, dass man davon ausgeht, dass ein privates Unternehmen trotz des Gewinns, den es erwirtschaften muss und der auch mit Steuergeldern finanziert wird, immer noch weniger kostet als ein Staatsbetrieb.
- Konkurrenz belebt das Geschäft. Es soll ein Wettbewerb mehrerer Anbieter bestehen und dadurch die Qualität steigen. Halte ich für fraglich, denn der Wettbewerb bezieht sich ja eigentlich nur auf die vom Aufgabenträger gestellten Forderungen. Warum sollte man mehr anbieten?
Welche Vorteile sollen Ausschreibungen bringen bzw. haben sie gebracht?
- Kosten senken. Wenn ich mich recht erinnere, haben sich die durchschnittlichen Preise pro Zugkm in den ausgeschriebenen Netzen in BaWü gegenüber dem großen Vertrag mit DB Regio annähernd halbiert. Mit begrenzten Mitteln kann also mehr Eisenbahnbetrieb finanziert werden.
- Einflussnahme des Aufgabenträgers. Durch Bestellungen kann der Aufgabenträger nicht nur die Anzahl der Fahrten festlegen, sondern auch Komfortmerkmale wie Sitzabstand, Klimatisierung oder WLAN fordern.
- Überschaubare Strukturen statt Wasserkopf. Flachere Hierarchien und kleinere Unternehmen verkürzen Entscheidungswege. Bei diesem Punkt möchte ich grundsätzlich zustimmen, in Großkonzernen scheint es oftmals Schwierigkeiten mit Zuständigkeiten zu geben. Insofern Zustimmung zu Hot Doc:
Viele Miseren im Bahnverkehr hängen tatsächlich mit dem einen großen Wasserkopf zusammen, bei dem am Ende sich keiner Zuständig fühlt oder wo Entscheidungen so lange hin und hergeschoben werden, bis es zu spät ist.
- Konkurrenz belebt das Geschäft. In Tschechien beispielsweise werden Ausschreibungen im Eisenbahnverkehr sehr positiv gesehen. Ich habe schon einige Male gehört, dass die CD erst durch die Konkurrenz von Regiojet und Leo Express ihre Qualität verbessert hat, sei es durch klimatisierte und moderne Wagen, WLAN, kostenlose Sitzplatzreservierungen. Nur ist diese Tatsache meiner Ansicht nach schlecht auf Ausschreibungen von SPNV-Linien übertragbar, weil nach gewonnener Ausschreibung im Gegensatz zum SPFV ein Monopol vorliegt.
[*]Verursachen unnötige Kosten. Die Frage ist, ob sich Ausschreibungen überhaupt volkswirtschaftlich lohnen. Denn weder das Vorbereiten von ordnerweise Unterlagen noch die Gerichtsprozesse durch unterlegene Bieter müssten bei einer Direktvergabe sein. Und wenn dann bestellte Leistungen nicht erbracht werden, müssen Gelder einbehalten werden und dann landet der Fall wieder vor Gericht… Pönale in der richtigen Höhe zu setzen ist außerdem schwierig, denn sind sie zu teuer, werden sie im Angebot miteingepreist und die Kosten steigen. Sind sie zu niedrig, ist es für die privaten Unternehmen billiger, Leistungen einfach nicht zu erbringen und die Pönale zu bezahlen. Insbesondere kritisch ist es natürlich, wenn es ein Maximum gibt und weitere Ausfälle keine Rolle spielen, weil dadurch die Leistungen nicht weiter gekürzt werden.
Außerdem werden Parallelstrukturen gefördert, wenn jedes Unternehmen seinen eigenen Kundenservice, seine eigene App und Fahrkartenautomaten braucht.
[*]Sind ungeeignet für dauerhafte Preissenkungen. Ich bin sehr skeptisch, was die Finanzierung von Angebotsausweitungen durch Einsparungen bei den Kosten pro Zug-km betrifft. Um beim Beispiel Ba-Wü zu bleiben. Jetzt wird gejubelt, welch große Angebotsausweitungen durch die geringeren Kosten finanziert werden können. Die Frage ist nur, was passiert, wenn das Minimum erreicht ist? Spätestens bei der nächsten Ausschreibung wird es ganz sicher kein so großes Einsparpotenzial mehr geben und die Preise wohl eher wieder steigen. Und außerdem
[*]Senken die Qualität. Um die Ausschreibung zu gewinnen, muss man in Deutschland das billigste Angebot abgeben. Nun weiß jeder, dass billig nicht gleich gut ist. Also gewinnt im Zweifel das Unternehmen, welches die kreativsten Klappsitzpositionen findet, um die vorgeschriebene Sitzplatzzahl in einem möglichst kleinen Triebwagen unterzubringen.
NEB: https://flic.kr/p/LKECsh S-Bahn Mitteldeutschland: https://flic.kr/p/CjbLd8 Und mein persönlicher Negativfavorit, BRB: https://flic.kr/p/2gdCdro
Oder es gewinnt das Unternehmen, welches mit der geringsten Fahrzeugzahl auskommt. Was im Zweifel bedeutet, dass die Reserve kleiner ist und damit häufiger Ausfälle verursacht werden oder Folgeverspätungen durch zu kurze Wendezeiten entstehen.
Oder es gewinnt das Unternehmen, welches das Personal am schlechtesten bezahlt und geht dann pleite, wenn es plötzlich Tariflohn bezahlen muss (Städtebahn). Meiner Ansicht nach keine erstrebenswerte Basis für Kostensenkungen.
[*]Sorgen für unflexibleren Betrieb. Eine bundesweite Bahngesellschaft hätte die Möglichkeit, einen Mangel an Fahrzeugen in einem Netz durch Fahrzeuge aus einem anderen Netz auszugleichen. Oder einfach eine Diesellok vorzuspannen, wenn die Oberleitung ausfällt. Oder Tf auf einer anderen Leistung einzusetzen. Selbst wenn Reserven vorhanden sind, können diese nicht genutzt werden, weil sie zu einem anderen Betreiber gehören. Dazu kommt die Vielfalt von Fahrzeugen und Softwareständen, die Kuppeln von Fahrzeugen untereinander unmöglich machen - z.B. sind weder die Hamster aus dem Netz Mitteldeutsche S-Bahn 1 mit denen aus dem Netz Mitteldeutsche S-Bahn 2 noch mit denen von Abellio kuppelbar.
[*]Verschärfen den Personalmangel. Dass das Zugpersonal nach verlorener Ausschreibung ohne Übernahmegarantie um die Zukunft bangen muss, macht den Beruf nicht attraktiver.
[*]Plötzliche Umstellungen gehen immer schief. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass der Start mit neuen Betreibern oft holprig verläuft. Entweder die neuen Züge sind nicht rechtzeitig ausgeliefert oder nicht zugelassen oder nicht ausreichend erprobt oder es fehlt Personal oder das nötige Know-How. Dabei muss ich an die Betriebsaufnahme der MRB denken: https://www.eisenbahnforum.de/index.php?s=6...90&#entry618397
Insofern würde ich auch der Aussage widersprechen, dass das Personal kleinerer Unternehmen besser mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut ist. Denn bei einem einzigen Betreiber würden die Beschäftigten dieselben bleiben und nicht auf einen Schlag ausgetauscht werden.
Dieser Aussage von Hot Doc möchte ich daher widersprechen.
Nur ein einziges EVU würde doch die Möglichkeiten deutlich erhöhen, dass Personal in Wohnortnähe zu beschäftigen. Gerade auf tschechischen Nebenbahnen habe ich es schon oft erlebt, dass das Zugpersonal Fahrgäste kennt und das fährt kein Unternehmen aus der Region sondern die CD. Aber auch in Deutschland habe ich das unabhängig vom Betreiber schon mehrfach gesehen.Ich denke, dass es durchaus Sinn machen kann bestimmte Teilnetzte auszuschreiben. Die BOB z.B. (würde sie nicht wieder von einem größeren Betreiber geführt) wäre so eine sinnvolle kleine Größe. Hier hat noch wirklich jeder Mitarbeiter einen Bezug zu der eigentlichen Tätigkeit und sei es nur einen Wohnsitz im Einzugsgebiet. In kleinerern Einheiten fühlen sich Mitarbeiter eher für etwas verantwortlich, sind aufmerksamer etc.
[*]Vor dem Ende eines auslaufenden Verkehrsvertrags läuft alles schief. Wenn bereits bekannt ist, dass die nächste Ausschreibung verloren ist, hat das beauftragte Unternehmen oft gar kein Interesse mehr, beispielsweise neues Personal einzustellen. Außerdem bewerben sich die Beschäftigten verständlicherweise bei anderen Unternehmen und verschärfen so den Personalmangel. Die Folge: Alex-Totalausfall Immenstadt - Oberstdorf bereits seit Juli.
Insofern möchte ich auch der Aussage von gmg widersprechen:
Ist erstens nicht notwendigerweise zutreffend...Konkret jetzt bei der S-Bahn Berlin könnte ich mir auch vorstellen, dass jeder Auftragnehmer dann auch sein Bestes geben würde, weil er genau weiß, dass er den Auftrag sonst schnell auch verlieren kann. Wenn z.B. der Betreiber der Stadtbahn-Linien sich auch lauter Zugausfälle leisten würde, so wie ein großer S-Bahnbetreiber in einem süddeutschen Ballungsraum, dann wäre klar, dass der Auftrag bei der nächstbesten Gelegenheit an einen der anderen beiden Betreiber fällt.
https://taz.de/Zugausfaelle-bei-der-Nordwes...n/!5607946/
https://www.lok-report.de/news/deutschland/...n-bis-2036.html
...und selbst wenn es so wäre, was passiert, deckt deine Vermutung nicht den Umstand ab, wenn die Ausschreibung schon verloren ist - man siehts man beim Alex Süd.
[*]Nachträgliche Änderungen sind kaum möglich. Durch Ausschreibungen wird ein bestimmtes Verkehrsangebot für einen bestimmten Zeitraum festgelegt. Wenn sich später herausstellt, dass das Angebot nicht ausreicht, ist eine nachträgliche Erweiterung der Kapazität schwierig. Schlechte Verträge können außerdem nicht aufgelöst werden, wie der nun endende große Verkehrsvertrag mit DB Regio in BaWü oder die anhaltenden Probleme mit der Eurobahn zwischen Münster und Bielefeld zeigen.
https://www.kontextwochenzeitung.de/politik...-deal-2306.html
https://www.lz.de/owl/22372606_Leistungen-s...Kuendigung.html
[*]Fahrgäste können nicht das gesamte Angebot nutzen. In Deutschland sieht es ja glücklicherweise sehr gut mit der gegenseitigen Anerkennung von Fahrscheinen aus, in Großbritannien oder Tschechien ist es deutlich schwieriger. Besonders ärgerlich ist es in diesem Zusammenhang, wenn der eigene Zug Verspätung hat und man einen anderen Zug derselben Strecke nicht nutzen darf, weil er von einem anderen EVU ist.
[*]Der Wettbewerb ist sinnlos. Ich würde einfach die Sinnfrage stellen - warum soll die DB Züge in Großbritannien und Tschechien betreiben, die NS (Abellio), SNCF (Keolis) und FS (Netinera) dafür Züge in Deutschland? Ich habe irgendwie Zweifel daran, dass sich damit Kosten senken lassen.
Und wenn man bereits nahe der minimalen Kosten steht oder es ohnehin nur einen Bewerber auf die Ausschreibung gibt, können durch Ausschreibungen ohnehin kaum Kosten eingespart werden. Mir hat ein Wirtschaftler mal erklärt, dass der Sinn von Ausschreibungen ist, dass alleine die Möglichkeit, dass ein anderes Unternehmen bieten könnte, Preissteigerungen verhindert. Das erscheint mir soweit plausibel, erklärt aber immer noch nicht, warum man nicht Verträge verlängert, in denen es gut läuft, wenn die Kosten ohnehin nur unwesentlich höher sind.
Und am Ende muss es eh der Staat richten, wenn sich die Privaten verkalkuliert haben - siehe London North Eastern Railway.
https://en.wikipedia.org/wiki/Virgin_Trains_East_Coast
"Given it was the third instance of the East Coast franchise needing to be terminated early for financial reasons, it was announced the next permanent arrangement, to begin in 2020, would feature closer co-operation between the private sector and Network Rail, the state-owned operator of the infrastructure."[/LIST]
Wie also könnte man die Situation für die Fahrgäste verbessern, für die letztlich ein gutes Angebot geschaffen werden soll?
- Fahrzeuge durch den Besteller beschaffen und Altfahrzeuge erst nach und nach durch ausreichend erprobte Neufahrzeuge ablösen. Verhindert außerdem kreative Klappsitze.
- Personalübernahme vom vorherigen Betreiber festlegen, damit das Personal vor Vertragsende nicht davonläuft.
- Gegenseitige Anerkennung von Fahrkarten fordern und ein Auskunftsmedium für alle Betreiber schaffen. In Deutschland funktioniert das sehr gut, in Tschechien bis dato weniger. Zumindest im Nahverkehr soll es ab Dezember auch durchgehende Fahrkarten für Verbindungen mit mehreren Betreibern geben.
- Tf direkt bei den Bestellern einstellen, um sie bei Mangel gegen Gebühr an die EVU zwangsauszuleihen.
- Ausschreibungen so ändern, dass Qualität angemessen berücksichtigt wird und nicht (fast) ausschließlich der Preis. So gibt es in der Schweiz beispielsweise einen Kostenrahmen - wer mehr Qualität anbietet, darf auch mehr verlangen.