Martin H. @ 26 Jul 2010, 20:42 hat geschrieben: Entschuldige für den vielen Text aber ich hab´grad´zu viel Zeit
Eisenbahner und zu viel Zeit?
Wo arbeitest du nochmal? Ich hätte da ein paar Schichten zu vergeben...
Ansonsten schließe ich mich meinen Vorschreibern an: Berechnungen helfen hier recht wenig, denn in der Praxis spielen da einfach zu viele Faktoren mit rein, die man einfach mathematisch gar nicht ausdrücken oder berücksichtigen kann.
Auch Bremshundertstel sind eine mathematische Größe die in der Praxis relativ wenig aussagen. Auch wenns mir hier die wenigstens glauben, ich habe erfahren müssen, dass ein Zug mit 102 BrH deutlich besser bremst als einer mit 154 BrH. (gleiche Witterungsverhältnisse)
Aus 120 km/h brauche ich in der Ebene mit einer durchschnittlich bremsenden x-Wagen-Garnitur und 143 etwa 500m zum anhalten mit Vollbremsung und sanftem Heranlösen an den Halteplatz. Mit Schnellbremsung sicher nochmal 100m weniger.
Ich muss demnächst mal ein wenig drauf achten - bisher sind die 500m der einzige Wert den ich mir interessehalber mal gemerkt hab.
Jede Lok bremst bei uns anders. Das ist kein Problem der Technik, sondern eine Einstellungsfrage seitens unserer zertifizierten Werkstatt. Während die eine Lok bei 100km/h und wirkender Vollbremsung sich langsam überlegt, ob sie die E-Bremse mal so allmählich in Richtung auf die 90 kN Mindestbremskraft bewegen soll, klemmt bei der anderen der Zeiger auf 135 kN am Anschlag. Und während man der einen Lok schon wirklich 1,5bar rauslassen muss um kurz vor dem Anhalten mal eine kurze Bewegung am Manometer für Bremszylinder sehen zu können, stellt die Druckluftergänzungsbremse der anderen Lok einen ab 30 mit 3bar C-Druck hin, so schnell kommt man gar nicht ans Löseventil. Auch die Führerbremsventile selbst unterscheiden sich, die einen lassen die Luft schneller raus, die anderen dafür umso langsamer. Klingt komisch, isses auch!
Wie will man diese ganzen Faktoren bei einer mathematischen Berechnung berücksichtigen? Unmöglich!
Praktisches Beispiel: Zwei Züge, gleiche Zugbildung, gleiche Witterungsverhältnisse, gleicher Bremseinsatzpunkt, gleichfalls Vollbremsung eingeleitet. Mit dem einen Zug musste ich nochmal ganz auslösen um zum Halteplatz vorkullern zu können, mit dem anderen "parkte" ich (trotz nachträglich eingeleiter Schnellbremsung) gut 150m weiter. Auch sehr hübsch war als eine Lok auf diesem Abschnitt meinte "E-Bremse - das ist nur was für Weicheier!" und beschloss: "1 Tonne Bremskraft ist genug!" was zur Folge hatte dass ich die entfesselte Kraft von 8bar Bremszylinderdruck voll genießen konnte.
Wenn dann noch ungünstige Haftwertverhältnisse herrschen, wird das ganze noch viel abenteuerlicher. Wir haben hier einen Streckenabschnitt der dahingehend sehr berüchtigt ist, da gibt es einige Tage im Herbst da geht gar nichts mehr. Mir selbst ist es noch nicht passiert, aber Kollegen berichteten von "40 Bahnsteiganfang - 40 Bahnsteigende" oder "ich tastete (vom Stwg aus) die Schleuderschutzbremse und knallte die Zusatzbremse (vom Stwg) zu, damit es überhaupt irgendwie bremst!"
Und die Fahrgäste stehen am Bahnsteig und denken "Gott, ist der schon wieder zu blöd zum bremsen!"
Nun muss es ja nicht immer so extrem sein, aber den zitternden Zeiger vom Bremszylinderdruck, das höhnische "zzzzt-zzzzzt" und das näherkommende Bahnsteigende kennt wohl jeder Tf.
Lange Rede kurzer Sinn: Mit Formeln mag man ja bei einem ET und optimalen Bedingungen den Bremsweg noch einigermaßen berechnen können, bei luftgebremsten Zügen dagegen machen wir es so wie unsere Vorfahren seit 175 Jahren: "Der Lokführer bremst mit dem Arsch!"
Und deswegen sind wir auch Lokomotivführer. Und keine "Zugführer", "Zugfahrer", "Fahrer" oder Studentenjobber.