
Ein Flirt verlässt den Bahnhof Sassnitz
Vorbemerkung
Alle Angaben zum Füllungsgrad von Verkehrsmitteln sind nur aufgrund eines relativ kurzen Beobachtungszeitraums entstanden und sind daher nicht repräsentativ. Meine Erlebnisse habe ich jeden Abend festgehalten. Es handelt sich größtenteils nur um meine persönliche Empfindung und Einschätzung. Falls ich irgendwo danebenliege, freue ich mich immer über Korrekturhinweise.
Prolog
Einige Tage vor meiner geplanten Abfahrt finde ich mich am Fahrkartenschalter am Münchner Ostbahnhof ein, um mir den D-Pass zuzulegen. Nach 3 Minuten liegt der fertige Fahrschein vor mir. Ob ich den Gültigkeitszeitraum wohl selbst eintragen muss? Ich frage sicherheitshalber nach. „Ach Entschuldigung, da habe ich Ihnen ja gar kein Datum draufgeschrieben. Gut, dass Sie nachfragen. Ich weiß heute auch schon nicht mehr, wie ich heiße…“ Eine Minute später habe ich dann den richtigen D-Pass mit Gültigkeitszeitraum in der Hand. „Entschuldigung nochmal, und allzeit gute Fahrt.“ Doch es sollte anders kommen.
Zwei Tage später mache ich mich auf den Weg nach Dresden, die letzten beiden Prüfungen warten noch in den beiden folgenden Tagen auf mich. Wie immer nehme ich die 3-Minuten-Verbindung um 17:02 und wie meistens fährt der Alex pünktlich in München ab. Pünktlich auf die Sekunde erreichen wir Regensburg, wie immer sehe ich den RE nach Hof auf einem anderen Gleis stehen. Auch hier sind es theoretisch 3 Minuten Umsteigezeit, aber mit Bahnsteigwechsel und ohne Anschlussabwarten. Wie immer bleibe ich im Alex, um den in Schwandorf wartenden RE einzuholen und weiter nach Hof zu fahren. Ich vertrete mir die Beine und beobachte die Rangiervorgänge am Zug. Die obere Lampe geht an, es zischt, die obere geht aus und die unteren beiden Lampen gehen an. Nur will die Obere nicht wieder angehen. 5 Minuten vergehen. Mittlerweile sollten wir schon abfahren. Ohne einen Warnhinweis wird heftig gearbeitet, die Wagen rollen mit offenen Türen mehrere Meter vor und zurück. Es hilft alles nichts, die dritte Lampe bleibt aus. Dann wird schließlich durchgesagt, dass wegen einer technischen Störung ein weiterer Wagen abgehängt wird. Und dann geht endlich die dritte Lampe an. Mit +10 verlassen wir Regensburg. Mal wieder muss ich um den Anschluss bangen, den ich schon in greifbarer Nähe hatte.
Wir nähern uns Schwandorf und es werden wartende Anschlusszüge durchgesagt. Meiner ist nicht dabei. Aber schon einmal hat er dann doch noch gewartet und ich bete darum, den 612er am Bahnsteig gegenüber zu sehen. Aber schon bei der Bahnhofseinfahrt ist die Sache klar. Heute ist es schief gegangen.
Ich steige aus, die Zub ist schon wieder am Rangieren, um den Fahrtrichtungswechsel durchzuführen. Ich bitte sie um Rat. „Nehmen Sie die VBG nach Marktredwitz und von dort die Agilis nach Hof, weiter schauen Sie dann am besten selber nach. Ich kann Ihnen das jetzt auch nicht sagen.“ Ob der Anschluss denn vorgemeldet war? „Ja war er, aber der hatte keine Lust zu warten.“ Das finde ich ja wundervoll. Wegen +8 komme ich nicht mehr nach Dresden.
Ich benutze die Unterführung, um zur VBG zu kommen. Neben mir stürmt eine junge Frau die Treppe hoch, obwohl es noch 2 Minuten bis zur Abfahrt sind. Aus einem mir nicht bekannten Grund pfeift der Tf der VBG. „Nein, bitte nicht…“, murmelt die Frau, die ihn schon abfahren sieht. Aber natürlich fährt er nicht ab. Ein Mann südländischen Aussehens steht an der vorderen Tür, ich beachte ihn zunächst nicht. Plötzlich pfeift er laut und ein anderer Mann mit südländischem Teint rennt quer über die Gleise zu ihm und beide steigen ein, ich ebenso. Ich setze mich im vorderen Bereich hin und mit +1 fahren wir ab. Nachzuschauen habe ich nichts, also hoffe ich auf eine Zub, die mir vielleicht weiterhelfen kann. Sowohl in Marktredwitz als auch in Hof ist nach 18 Uhr jedenfalls kein Personal mehr vor Ort.
An einem Unterwegshalt kommt schließlich einer der beiden südländischen Männer nach vorne und versucht, mit dem Tf Kontakt aufzunehmen. Ein Schild an der Tür zum Führerstand erlaubt dies sogar ausdrücklich während dem Aufenthalt in Bahnhöfen (und wahrscheinlich auch an Haltepunkten.) Er deutet dabei auf seine Reiseverbindung. Die Tür geht auf und der Tf erklärt ihm, dass er mit Umstieg in Marktredwitz nach Hof fahren soll. Ohne ein Wort verschwindet der Mann wieder. Jetzt kommt mir das Ganze doch etwas suspekt vor. Auch eine Frau mittleren Alters wittert jetzt ihre Gelegenheit, herauszufinden, wie sie nach Chemnitz kommen soll. Der Tf verspricht, bis zu einem späteren Halt nachzuschauen.
Etwas später kommt der Mann wieder mit seiner Reiseverbindung nach vorne. Der ratlose Tf öffnet wieder die Tür und klärt zunächst die Frau darüber auf, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, nach Chemnitz zu fahren. Sie überlegt laut, ihren Mann anzurufen, damit der sie mit dem Auto in Hof abholen kommt. Jetzt sehe ich den Zeitpunkt gekommen, mich in die Diskussion einzuschalten. Normalerweise sehe ich die Dinge gelassen, aber wenn der letzte Anschluss des Tages wegen 8 Minuten nicht wartet – und das auch noch auf einer Strecke, auf der ein Tf schon mal 5 Minuten rausgefahren hat – werde ich doch etwas grantig. Ich weise sie darauf hin, dass sie Anspruch auf Taxi oder Hotel hat. Denn sie hat eine durchgehende Fahrkarte, genau wie ich. Aber eine Übernachtung möchte sie auf keinen Fall, denn sie muss morgen zur Arbeit. Eine weitere junge Frau, die auch nach Chemnitz muss, hört interessiert zu. Der Tf ist mittlerweile wieder in den Führerstand abgezogen und wir setzen unsere Fahrt pünktlich fort. Die Frau verständigt ihren Mann, der mit dem Auto nach Hof kommt. Sie bietet der jungen Frau an, dass die mitfahren kann. Am nächsten Halt zeigt sich der Tf wieder. Was denn eigentlich los sei. Alle reden durcheinander, sie mittelalte Frau sagt, dass schon in Rosenheim alles schief gelaufen sei und dass schon dort 30 Minuten Verspätung… Die junge Frau erklärt dass sie nach Chemnitz muss… Die junge Frau, die mich auf der Treppe überholt hat, meint, dass die nach Wiesau muss und dass dort ihr Auto…
Ich erkläre in 3 Sätzen das eigentliche Problem, nämlich dass der RE nach Hof nicht gewartet hat. Ob er vielleicht eine Idee habe, wo ich ein Taxgutschein auftreiben könnte? Leider hat er keine Idee und meint, dass er jetzt weiterfahren müsse. Das sehe ich ein. Der südländische Mann hat die ganze Diskussion stumm verfolgt und steht immer noch etwas verloren mit der Reiseverbindung in der Hand dabei. Die beiden Frauen, die nach Chemnitz wollen, verschwinden wieder. Der Mann deutet wieder auf seine Reiseverbindung, jetzt sehe ich, dass auch er nach Chemnitz muss. Offensichtlich versteht er kein Deutsch und die junge Frau, die ihr Auto in Wiesau geparkt hat, erklärt ihm: „I think there is a problem. You have to sleep.“ Sie verdeutlicht das mit Gesten. Auch ich versuche es mit einigen Worten auf Englisch. Dann meldet er sich zum ersten Mal zu Wort. „No English. Arabic.“ Oh. Ich wechsele einen Blick mit der jungen Frau, wir sind beide völlig platt. Wie zum Teufel soll ich jemandem ohne Deutsch- oder Englischkenntnisse erklären, dass er in Marktredwitz umsteigen muss, um nach Hof zu kommen, von dort aber nicht weiterfahren kann, weil heute kein Zug mehr fährt?
Er deutet mir, ihm zu folgen. Sein Kumpel wischt am Handy herum, auf den Sitzen sind diverse Papiere verstreut. Er zeigt mit Google Maps mit einem Ausschnitt irgendwo in der Oberpfalz. Anscheinend wollen sie wissen, wo zum Teufel sie eigentlich sind. Das wiederum ist ohne gemeinsame Sprachkenntnisse schwer zu erklären. Irgendwann verstehe ich dann, dass sie wissen wollen, ob das der richtige Zug ist. This train OK. Wir schauen uns an. „This train OK“, wiederholt der eine und ist sichtlich erleichtert. Er zeigt mir nochmal seine Reiseverbindung, dann zeigt er mir noch einen weiteren Zettel. Da wird mir so einiges klar. Die beiden sind syrische Flüchtlinge auf dem Weg von einem Asylantenheim in München zu einem Asylantenheim in Chemnitz. Das Gleis 26 der Abfahrt in München ist markiert und dick eingekringelt. Zudem steht noch handschriftlich VBG Marktredwitz agilis Hof auf der Reiseverbindung. Mein Englisch unterstreiche ich viel mit Händen und Füßen, ich versuche ihnen zu erklären, dass sie mir folgen sollen. Das scheint zu funktionieren.
Ich gehe zurück zu meinem Platz und hole endlich mein Abendessen nach. Schließlich kommt eine Zub und kontrolliert die Fahrkarten. Sie kann mir leider auch nicht weiterhelfen und rät mir, die Servicehotline der DB anzurufen. Das habe ich auch vor, aber nicht während der Fahrt durch die unzähligen Funklöcher der Oberpfalz. In Marktredwitz habe ich schließlich 10 Minuten Umsteigezeit.
Bevor wir in Marktredwitz ankommen, gehe ich wieder zu den Männern, um ihnen irgendwie zu erklären, dass wir jetzt aussteigen müssen. Wie sie sich wohl in dieser Situation fühlen? Weil sie kein Englisch können, gehe ich davon aus, dass sie weder Wörter noch Zahlen lesen können. Ich will mir lieber nicht ausmalen, wie ich mich in einem syrischen Zug fühlen würde…
Der Umstieg klappt problemlos und das Glück ist uns allen hold. In der Agilis sitzt eine arabische Familie. Die Frau bietet schließlich an, auch die beiden Syrer mit dem Auto nach Chemnitz mitzunehmen. Nach einigen Übersetzungen sind sich alle einig. Ich rufe die Hotline der DB an und nach einer kurzen Warteschleife bin ich bei der Abteilung Fahrgastrechte. Dort kann man mir aber auch nicht so recht weiterhelfen und verbindet mich weiter an die Fahrplaninformation. Nachdem ich mein Problem ein weiteres Mal geschildert habe, erklärt man mir, dass um 20:33 (also mit +6!!!!!!) der letzte Zug nach Dresden abgefahren sei und man mich für weitere Informationen an die Abteilung für Fahrgastrechte weiterleiten würde. Allmählich habe ich die Schnauze wirklich voll. Schließlich erfahre ich, was ich schon weiß, nämlich dass der nächste Zug um 4:25 Uhr fährt. Irgendwie will mir diese Idee überhaupt nicht gefallen und ich werde es auch nie verstehen, warum man um 4:25, aber nicht nach 20:27 auf dieser Strecke fahren kann. Ich erkundige mich nach Taxi- oder Hotelgutschein. Gibt es beim Personal vor Ort. Haha, guter Witz. Mittlerweile sind wir abgefahren und ich bin im Wesentlichen auch nicht schlauer als vorher.
Die Frau will wissen, was man mir geraten hat. Ich frage sie, ob sie mich eventuell bis Chemnitz mitnehmen kann. Vielleicht bekomme ich ja von dort ein Taxi. Aber das spontane Sammeltaxi ist mittlerweile voll. Dann werde ich wohl in Hof übernachten müssen. Pünktlich erreichen wir Hof und ich habe auch mal den 650er mit 3+2-Bestuhlung ausprobiert. Wir verabschieden uns. Vielleicht war ja die Verlegung von München nach Chemnitz abenteuerlicher als die Flucht von Syrien nach Deutschland. Das werde ich aber wohl nie erfahren und wer auf die Idee kommt, zwei Menschen, die sich überhaupt nicht auskennen und verständigen können, die 3-Minuten-Verbindung zu empfehlen, auch nicht.
Nach einer unruhigen Nacht entscheide ich mich für die Weiterfahrt um 9:30 Uhr am nächsten Morgen. Aber meine Reise steht unter keinem guten Stern. Der Zugteil aus Nürnberg kommt mit +5 an. Dann gibt es Kupplungsprobleme. Mit +13 fahren wir endlich ab. Dann bummeln wir hinter einer VBG hinterher und es gibt zudem noch diverse Baustellen. In Plauen sind wir dann bei +22 und es geht äußerst zäh weiter. Mit +24 bin ich dann endlich in Dresden. Als ich aus dem Bus aussteige, fängt es an zu regnen. Und innerhalb von Sekunden schüttet es wie aus Kübeln und ich erreiche mit satter Verspätung und völlig durchnässt meine Wohnung. Eine Reise, wie sie keinen Spaß macht. Und in Zukunft werde ich bei pünktlicher Ankunft schon in Regensburg umsteigen.
Danke an alle Leute hierzuforum und außerhalb, die mich in meiner unschönen Lage beraten haben.