Lügen haben lange Reiseplanungen
Heute habe ich mal wieder Lust auf Abteil. Am liebsten die mit der großen Beinfreiheit. Am Sonntag zum Ende des verlängerten Wochenendes ist einiges los.
Oh, ein komplett freies Abteil. Die Tür geht nicht auf. Verschlossen. Wäre ja auch zu schön gewesen. Im nächsten Abteil sitzen eine Frau und ein Mann mittleren Alters an den Fensterplätzen und eine junge Frau am Gang. Ich setze mich ihr gegenüber. Das Rollmaterial beim Alex ist jedes Mal aufs Neue eine Überraschung.
Diesen Wagen habe ich noch nie gesehen.
Das Paar unterhält sich leise, die Frau mir gegenüber hat Stöpseln in den Ohren und ich warte auf die Abfahrt. Alles deutet auf eine ganz normale Bahnfahrt hin.
Wenige Minuten vor Abfahrt taucht plötzlich eine ziemlich kleine und deutlich übergewichtige Frau auf. Sie hat einen leichten Sprachfehler. „Entfuldigen Sie, aber daf ist mein Platz!“, sagt sie ziemlich laut zur mittelalten Frau am Fensterplatz in Fahrtrichtung.
„Ja woher hätte ich das denn wissen sollen?“, meint sie enschuldigend.
„Ich hab doch extra meine Sachen dahingestellt“, erläutert die übergewichtige Frau ziemlich unfreundlich.
Die mittelalte Frau räumt schnellstens den Platz, setzt sich auf den Fensterplatz gegen die Fahrtrichtung, der Mann rückt in die Mitte neben mich auf.
„Jaja, schon gut. Kein Problem…“, meint sie vorsichtig. In der Tat ist die Frau eine ungewöhnliche Erscheinung. Obwohl sie ziemlich viele Klamotten anhat, ist das Übergewicht nicht zu übersehen. Sie ist nicht größer als 1,50 m, dazu kommt noch der Sprachfehler. Es fällt mir äußerst schwer, ihr Alter zu schätzen. Zwischen 15 und 25 ist irgendwie alles denkbar.
Sie lässt sich in den freigewordenen Sitz plumpsen und legt zwei große Packungen Haribo-Süßigkeiten und eine 300 g–Packung Waffelmischung neben sich. „Wohin fahrt ihr?“, will sie vom mittelalten Paar wissen.
„Nach Hof“, antwortet die Frau.
„Ich gar nicht, ich gehe gleich wieder“, meint der Mann.
Nach einem intensiven Abschiedskuss verlässt der Mann das Abteil.
In den folgenden drei Minuten bis zur Abfahrt versuchen sich noch etliche Fahrgäste an der verschlossenen Abteiltür. Manche geben nach einem kurzen Versuch auf, andere zerren mit aller Kraft an der Tür. Keiner hat Erfolg, missmutig ziehen alle weiter, um sich einen anderen Platz zu suchen. Unser Abteil ist wegen des Rucksacks auf dem Platz neben der übergewichtigen Frau und einem Koffer in der Mitte offensichtlich wenig einladend und so bleibt es bei der Viererbelegung.
Pfeif! Ditditditditditrumms. Mit Schwung setzen sich die fünf Wagen in Bewegung.
Als die Zub vorbeigeht, wird sie von einigen Fahrgästen aufgehalten, die wissen möchten, warum das Abteil versperrt ist. Sie sperrt auf und nach einer ausgiebigen Geruchsprobe wird es als benutzbar empfunden. Glücklich wird es gestürmt. In der Tat riecht es im Wagen nicht allzu gut und ich öffne das Klappfenster im Gang. Dort sollte es niemanden stören, auch wenn ein paar Tropfen des Mistwetters hereingeweht werden.
Die Zub geht zur Fahrkartenkontrolle durch. Kurz vor unserem Abteil wird sie aufgehalten. „Entschuldigung, eine Mitarbeiterin von der DB hat mich in diesen Zug hier umgebucht, weil mein Zug verspätet war. Eigentlich sollte ich mit einem Zug nach … äh … hm … egal, weiß ich nicht mehr fahren. Das ist doch jetzt ein anderes Unternehmen. Muss ich jetzt eine andere Fahrkarte lösen?“
Die Zub winkt ab, dann schaut sie bei uns vorbei. Alle zeigen ihre Fahrkarte vor, nur die übergewichtige Frau nicht. Als die Zub sie schließlich fragend anschaut, meint sie: „Ich auch?“
„Ja, natürlich. Der Fahrschein muss immer mit dabei sein.“
Sie zieht einen Lederumschlag hervor, auf dem in riesigen Lettern ihr Name steht. Jetzt erst entdecke ich, dass auch der mitten im Abteil platzierte Koffer ihr gehört. Wahrscheinlich zeigt sie einen Behindertenausweis vor, jedenfalls meint die Zub: „Ok gut, jetzt wieder schön verstauen.“
Nachdem das passiert ist und der Lederumschlag neben dem Rucksack auf dem Sitz liegt, nimmt sie die Packung Waffelmischung zur Hand und beginnt genüsslich zu essen.
Nennen Sie alle Weichen, die für die Zugstraße K/2 in einer definierten Lage sein müssen.
Über Weiche 9 muss man drüberfahren, Weiche 3 ist im Durchrutschweg. Und welche brauche ich für den Flankenschutz?
Der auffällige Klingelton des Smartphones der Frau unterbricht meinen Gedankengang für den Durchrutschweg der Prüfung Bahnbetrieb.
„Hi Mama.“
…
„Ja.“ … „Ja.“
„Wir haben eine halbe Stunde Verspätung. Wir sind erst um halb fünf in München weggefahren.“
Hoppla, was spielt die denn für ein Spiel? Auch in Freising sind wir pünktlich abgefahren.
„Ja.“
…
„Nein, ich esse.“
In der Tat hat sie die Waffelmischung bis zum Telefonat nicht aus der Hand gestellt.
…
„Ja, ich rufe dann um sieben Uhr wieder an.“
…
„Ja, Ok. Tschüss.“ … „Ja, tschüss, ciao, pfürtdi, bussi, ciao.“
Dann legt sie auf.
Interessant. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die äußerst klare Aussprache. Der Sprachfehler ist scheinbar verschwunden. Ich widme mich wieder dem Durchrutschweg.
Kurz vor Landshut ist die 300g-Packung leer und verschwindet im Abfallbehälter. Dazu passt doch wunderbar eine Müllermilch. Die Flasche ist leider zu breit für den Mülleimer, also stellt sie sie daneben. Anschließend zieht sie wieder ihr Smartphone aus der Tasche.
„Hi Monica.“
…
„Ja, ich wollt nur sagen, dass ich erst um acht Uhr da bin. Wir haben eine halbe Stunde Verspätung.“
…
„Ja, nur dass sie Bescheid weiß.“
…
„Ok, ciao.“
Als nächstes ist eine Packung Haribo dran. Wie andere Leute eine Hauptmahlzeit verzehren, isst die Frau die Süßigkeiten. Ich schätze sie nun jünger ein, der Rucksack erinnert sehr an einen Schulranzen. Nein, die ist noch keine 18.
Bis Regensburg geht jeder seiner eigenen Beschäftigung nach. Die junge Frau mir gegenüber hört etwas über ihre Kopfhörer. Die mittelalte Frau liest. Die Übergewichtige isst. Und ich schaue zu. Unbeeindruckt davon rinnt der Regen an den Fenstern hinab. Die Landschaft ist in tiefes Grau gehüllt.
Wuuuuuusch. Bumm. Der Sog des Gegenzuges verschließt das Klappfenster.
Die Haribotüte wird leer im Mülleimer entsorgt.
Ich nutze den
Rangieraufenthalt, um etwas frische Luft zu schnappen. Bei meiner Rückkehr sitzt neben mir eine mittelalte Frau, mir gegenüber ein junger Mann. Nur der Platz mit Schulranzen und Lederumschlag ist frei.
Die weitere Fahrt vertreibe ich mir mit einem Hörbuch. Irgendwo zwischen Schwandorf und Weiden klingelt wieder das Handy. Die zweite Packung Haribo ist inzwischen ebenfalls geleert und ein Kokosgetränk geöffnet. Ich pausiere mein Hörbuch, und beobachte unauffällig die Spiegelung im Gangfenster.
„Hi Mama.“
…
„Ja.“ … „Ja.“
Mit der einen Hand hält sie das Telefon, in der anderen das Kokosgetränk.
„Wir haben zwei Stunden Verspätung. Ich bin erst um neun Uhr da.“
…
„Ja, wirklich.“
…
„Hallo? Mama???“
Das rote Kreuz an den Empfangsbalken verkündet auch auf meinem Handy eines der zahlreichen Funklöcher der Oberpfalz.
Eine Minute passiert nichts, also setze ich mit meinem Hörbuch fort.
Dann wählt sie wieder.
Pause und Beobachtungsposition.
„Hi Mama.“
…
„Ja.“
„Sehr geehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Weiden. Dort haben sie Anschluss…“
„Ich sag die Wahrheit“, sagt sie nun etwas lauter.
…
Auch Mamas Tonfall wird etwas strenger und lauter.
„Ja, wirklich.“
…
„Ja, in München war ein Unfall und dann ging die Tür nicht zu.“
Hätte sie noch eine Person vor den Unfall gestellt, wäre es durchaus glaubwürdig gewesen. Die Lügen kommen ihr ohne Zögern über die Lippen.
…
„Nein.“ … „Ja, wirklich.“
…
„Furchtbar.“
…
„Ganz hinten. Im Alex Treff.“
…
„Düdum. Wir erreichen jetzt Weiden.“
„Wir sind in Maxhaidhof.“
…
„In Maxhühaidhof.“
…
„Ich sag die Wahrheit!!!“
…
„Ja, ok. Bussi, tschüss, ciao, pfürtdi. Bussi, ciao.“
Alle gehen demonstrativ ihren Beschäftigungen nach. Play.
Zwei Käsestangen warten noch auf ihren Verzehr. Die erste Stange isst sie zur Hälfte, vom Rest und der zweiten nur den Käse oben weg. Dann legt sie die Reste auf die Papiertüte auf den Klapptisch.
Während wir in Weiden stehen, spricht sie die ihr gegenübersitzende, mittelalte Frau an.
„Wissen Sie, ob der von Hof wieder zurückfährt?“
Die Frau fühlt sich sichtlich unwohl. „Ja, ich denke schon. Aber ich weiß nicht, wann.“
Oho. Pause.
„Wie lange dauert das denn bis Hof?“
„Naja, eine Stunde von Weiden.“
„Ich könnte ja bis Hof fahren und anschließend wieder zurück.“
Wieder ringt die Frau mit sich. „Ja, aber steig doch einfach gleich aus. Du musst doch nach Marktredwitz?“
„Das macht nichts, ich hab ja den Ausweis.“
Die Frau neben mir spielt unbeeindruckt das Kartenspiel mit mysteriösen japanischen Schriftzeichen auf ihrem IPad weiter, der Mann ist bereits wieder ausgestiegen.
„Ja, aber ich weiß wie gesagt nicht genau, ob der zurückfährt. Und wann. Ob der heute überhaupt noch zurückfährt. Und du wirst doch bestimmt abgeholt.“
„Ich frag nachher die Zugbegleiterin.“
Allmählich überlege ich, einzugreifen. Denn erstens bleibt der Alex nicht am Bahnsteig stehen und zweitens fährt er heute tatsächlich nicht mehr zurück. Andererseits bin ich gespannt, wie das weitergeht. Und ich glaube auch nicht, dass sie diesen Plan tatsächlich durchziehen wird. Aber schlau ist er ohne Zweifel. Sie fährt bestimmt nicht zum ersten Mal die Strecke und kennt sich ziemlich gut aus.
Nach einer Minute gespannter Stille zieht sie eine Dose Red Bull aus ihrem Rucksack und hält sie der Frau gegenüber hin. „Können Sie mir die aufmachen?“
Kurz darauf klingelt wieder das Handy.
„Hi Mama.“
Der Ton ist unverkennlich noch etwas rauer geworden.
„Ich sag die Wahrheit!!“
…
„Ja, wirklich. Ich bin erst um neun Uhr da.“
Sie nimmt einen Schluck Red Bull.
…
„Bei Schwandorf.“
…
Offensichtlich glaubt die Mama kein Wort.
Noch ein Schluck Red Bull.
„Hm, ich kann Probleme kriegen?“
Noch ein Schluck.
…
„Dann darf ich gar nicht mehr zu dir?“
…
„Ja, wirklich.“
Es klingt nicht mehr überzeugend.
…
„Ja, gut. Ok. Ciao, bussi, tschüss, ciao. Pfürtdi, ciao.“
Nach so vielen Unterbrechungen habe ich den Faden verloren. Aber manchmal ist die Wirklichkeit eben spannender als ein Roman.
Die geleerte Red Bull-Dose stellt sie auf den Klapptisch, die halbe Käsestange ohne Käse isst sie auf. Dann folgt eine Banane. Die Schale wandert in den Mülleimer, der mittlerweile ziemlich voll ist. Wie kann die bloß so viel essen? Wenn ich dieselbe Menge während der dreistündigen Fahrt gegessen hätte, wäre ich wohl für die nächsten drei Tage satt.
Etwa zehn Minuten vor Marktredwitz steigt die Spannung. Sie nimmt wieder ihr Smartphone zur Hand.
„Können Sie mir sagen, warum das nicht geht?“, will sie von der Frau gegenüber wissen.
Die fühlt sich ihrer Situation sichtlich nicht wohl und meint: „Tut mir leid, ich kenne mich nicht aus. Ich habe mir zwar auch vor kurzem ein Smartphone gekauft, aber noch nicht eingerichtet. Vielleicht kein Empfang?“
Das rote Kreuz bestätigt die Vermutung.
Nach einer Minute versucht sie es nochmal. Jetzt klappt es.
„Hi Mama.“
…
Ohoh.
Der Ton verheißt nichts Gutes.
„Ja, ich wollte dir nur sagen, dass der die Verspätung reingeholt hat. Ich bin um fünf nach sieben da.“
Wahrscheinlich bin nicht nur ich erleichtert. Vielleicht hat sie ja eingesehen, dass ihr Plan spätestens dann durchschaut wird, wenn sie mit einem Zug aus Hof ankommt.
…
„Ja, die haben das gerade durchgesagt.“
…
„Furchtbar.“
…
Auch Mamas Ton klingt jetzt etwas entspannter.
„Ja, sag Bescheid.“
…
„Ok, gut. Ciao, Pfürtdi, tschüss. Ja, Ciao, tschüss, ciao.“
Düdum. Wir erreichen jetzt Marktredwitz.
Ein kleiner Rest der zweiten Käsestange ist noch übrig, für die Dauer des Einpackvorgangs wird er auf einer Armlehne zwischengelagert. Er wird noch vernichtet, dann verschwindet sie ohne ein weiteres Wort mit ihrem Koffer Richtung Ausgang.
Ziemlich langsam rollt der Alex in den Bahnhof Marktredwitz. Ich werde etwas nervös, denn drei Minuten Umsteigezeit sind und bleiben einfach alles andere als üppig.
Am Gleis gegenüber fährt ein 612er Richtung Hof ein. Na grandios, der verspätete RE aus Nürnberg. Einen Moment hoffe ich, dass wir eine Parallelfahrt auf beiden Streckengleisen bis Hof machen. Aber als der RE nach einem kurzen Aufenthalt weiterfährt und ein 612er aus Hof an einem anderen Gleis einfährt, ist mir klar, dass wir noch eine Weile stehen werden.
„Der fährt aber schon noch weiter nach Hof?“, frägt die Frau mit IPad die andere.
Mit +7 fahren wir ab. Grmpf. Ich gehe zum Alex Treff, und bitte die Zub, den RE nach Dresden vorzumelden. Die Kollegin sei gerade dabei. Kurz darauf wird durchgesagt, dass der Anschluss wartet. Nochmal gutgegangen. Als ich wieder mein Abteil erreiche, schnappe ich noch auf: „…ich ihn verpasse, dann fahre ich halt eine Stunde später. Nach Bad Steben sind es nur vier Minuten zum Umsteigen. Aber das wäre natürlich blöd für Sie.“
„In Kürze erreichen wir Hof Hbf. Sie haben dort Anschluss an den RE nach Dresden, Abfahrt 19:36 Uhr von Gleis 6a. Dieser Zug wartet abfahrbereit auf Sie. Zur Agilis nach Bad Steben um 19:39 Uhr von Gleis 4a. Dieser Zug wartet ebenfalls abfahrbereit. Wir bitten um zügiges Umsteigen.“
„Ja, gut, stress uns noch mehr“, kommentiert eine junge Frau, die hinter mir im Gang auf die Ankunft wartet.
Nach einigem hektischen Gerenne und Gezerre setzt sich der RE mit +6 in Bewegung. Nach dem verlängerten Wochenende ist viel los, die große Mehrheit sind Studenten. Wie immer ignorieren viele Zugestiegenen die freien Plätze, und ich nehme den erstbesten (sogar ohne gezwungen zu sein, freundlichst auf Gepäckablageflächen hinzuweisen).
Von Gleis 3 des Bahnhofs Astadt soll ein Zug Richtung Bdorf ausfahren. Die eingleisige Strecke ist mit einem Streckenblock ausgestattet. Die Fahrstraße ist schon bis zur Fahrstraßenfestlegung gebildet. Das Ausfahrsignal N3 lässt sich (noch) nicht auf Fahrt stellen. Nennen Sie einen möglichen Grund. (keine Störung)
Weiche in der falschen Lage?
Nein.
Fahrstraßenausschluss?
Nein.
Durchrutschweg?
Nein.
Flankenschutz?
Nein.
Hmm. Zur Klärung dieser Frage bleiben mir noch entspannte zweieinhalb Stunden Fahrt, während der Regen unentwegt für Sturzbäche auf den Fenstern sorgt.