JLanthyer @ 9 Jan 2016, 00:37 hat geschrieben: Ich bin ein Baden-Württemberger.
Das sind für uns in Bayern ebenso Preußen ("Preißn"), so nennen wir halt alle Nichtbayern in Deutschland, der Begriff kommt historisch vom Lande Preußen, was es ja eh nicht mehr gibt, soll aber eine bestimmte Kultur und einen bestimmten Menschenschlag beschreiben. Beispielsweise die Liebe zum Zentralismus und eine gewisse Spießigkeit, während wir Bayern uns ja einer gewissen Anarchie, eines gewissen Amigotums ("a Hund isa scho"-Anerkennung statt Skandalgeschrei) und barocker Lebensfreude rühmen. Das schwäbische Schaffe, Schaffe, Häusle baue ist doch genauso spießig und bieder wie die preußischen Sekundärtugenden, aber ich schweife ab.
"Um welche Sache geht es? Nicht etwa, daß das Volk gefragt wurde, ob sie der Gesetzesvorlage, das Rauchen zu verbieten zustimmen, oder wurde es direkt gefragt, ob es dem Rauchverbot zustimmt? Außerdem zeigt die Volksabstimmung, wie wichtig die direkte Demokratie ist."
Weder noch. Die Landespolitik wollte gar kein strenges Rauchverbot. In Bayern kannst du Landesgesetze erzwingen, wenn du genug Unterstützer sammelst. Dann gibt es ein Bürgerbegehren. Wenn sich dann genügend Wahlberechtigte in Wahllokalen diesem Begehren anschließen kommt es zur Abstimmung. Außer der Landtag hat von sich aus ein einsehen und nimmt das Bürgergesetz gleich selbst an. Das war nicht der Fall, also kam es zum Entscheid und der erhielt eine Mehrheit und so wurde der von bayerischen Bürgern formulierte Gesetzestext zum Rauchverbot zum geltenden Gesetz in Bayern. Gegen den ausdrücklichen Willen der Landespolitiker, aber in solch einem Fall sticht der Ober den Unter, d. h. der Landtag kann dagegen nichts machen, er kann nicht einmal anschließend per Landtagsmehrheit solch ein Bürgergesetz gleich wieder abschaffen, da gibt es eine fixe Bindungsfrist (und darüber hinaus natürlich eine Schamfrist, wer sowas macht braucht sich gar nicht mehr zur Wahl stellen).
Klar ist direkte Demokratie als ein Element wichtig. Aber sie ist nicht der Weißheit letzter Schluß. Mehr noch, ich bin durchaus dafür, dass viele Dinge gegen Mehrheiten durchgesetzt werden. Es gab in den 60ern in der Bevölkerung keine Mehrheit, abzuschaffen, dass verheiratete Frauen quasi unmündig und ihrem Ehemann unterstellt sind (der sog. Haushaltsvorstand konnte ohne Rücksprache mit seiner Ehefrau zB deren Arbeitsvertrag kündigen, deren Girokonto kündigen und sie zum Dasein als Heimchen am Herd regelrecht zwingen, auch die Vergewaltigung in der Ehe durch den Mann war straflos; die Politik änderte das gegen durch Umfragen festgestellte eindeutige Mehrheiten der Deutschen seinerzeit). Oder denk an die Gleichberechtigung von Homosexuellen, egal wie man über Homosexualität individuell denkt, zumindest vor dem Gesetz müssen natürlich auch Homosexuelle gleich behandelt werden. Die sog. Lebenspartnerschaft als "Homoehe" wurde damals gegen Bevölkerungsmehrheiten eingeführt.
Und schau umgekehrt was in der Schweiz gemacht wurde, denke an das Verbot für Muslime ihre Kirchgebäude im für sie nun einmal traditionellen Stil mit Minaretten zu errichten. Da muss ja noch kein Muezzin stehen, das ist wieder eine andere Frage. Aber ich will ebenso wenig, dass Muslime so diskriminiert werden, wie ich umgekehrt möchte, dass Christen in der islamischen Welt verboten wird Kirchtürme zu errichten. Das kritisieren wir dort zurecht, dann können wir es umgekehrt in Europa nicht genauso machen (außer wir begeben uns auf das Niveau von Kindergartenkindern und sagen "Ätschäbä" und "rächen" uns quasi).
Die Mehrheit ist eben nicht unbegrenzt Weiße. Die Mehrheit wollte damals auch den Adolf. Die Mehrheit ist eben oft auch dumm und manipulierbar. Darum ist das Zusammenspiel aus repräsentativer Demokratie und direkter Demokratie - beide beschränkt durch unumstößliche Werte unseres Grundgesetzes - in meinen Augen der richtige Weg.
Das Grundgesetz sieht Abstimmungen ja vor, bei Länderfusionen. Bei Bundesgesetzgebungen, ich habe ja ausführlich skizziert, wie klein der Bereich ist, bei dem der Bund eine ausschließliche Gesetzgebung und ausschließliche Vollzugskompetenz hat (überall sonst haben die Länder ja was mitzureden bzw. gar selbst das alleinige Gesetzgebungsrecht, womit wieder Volksabstimmungen auf Landesebene problemlos möglich sind). Du hast verfassungsrechtlich das Problem, dass du entweder einen dezentralen Einheitsstaat haben kannst, wie ihn zB die Spanier haben, oder einen föderalen Bundesstaat haben kannst, wie die Bundesrepublik. Bei letzterem kannst du in den Ländern, die das Zentrum der Staatsgewalt sind, mit denen alles beginnt, direkte Demokratie haben. Bei ersterem kannst du auf Bundesebene direkte Demokratie haben, da in einem Einheitsstaat ja eh den Regionen alles "von oben diktiert" wird, ob es dann ein Zentralparlament macht oder per landesweiter Abstimmung macht sicherlich keinen Unterschied mehr.
Bei uns geht es nicht, weil du dann Konstellationen haben könntest, dass zB alle 15 Länder ex Bayern ein für Bayern hochgradig nachteiliges Gesetz mit der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der anderen 15 Länder durchsetzen könnten und Bayern hätte keinerlei Möglichkeiten, was dagegen zu tun. Im Bundestag ist Bayern aber als Land repräsentiert (darum setzt sich der Bundestag aus Landeslisten zusammen und nicht aus einer einheitlichen Bundesliste!) und über den Bundestag hat es gar bestimmte Vetorechte, in jedem Fall sehr viel mehr Mitsprache, als in diesem geschilderten Extremfall (der nicht der Grund dafür ist, dass Volksabstimmungen auf Bundesebene mit dem Grundgesetz und unserem Föderalismus unvereinbar sind, aber ein anschauliches Beispiel dafür).
Ich will das Grundgesetz nicht aufgeben, wozu auch. Was besseres kommt gewiss nicht nach. Und ich will auch keinen Zentralstaat. Ich weiss, dass wir damit in Bayern in der Minderheit sind, das war schon 1949 so, als erst durch bayerisches Veto und eine erstmalige Ablehnung des Grundgesetz im bayerischen Landtag föderale Nachbesserungen vorgenommen wurden. Ich weiss, dass ihr Preußen Zentralstaaten mögt (und genau das macht die Badener genauso zu Preußen wie die Hanseaten - ihr nickt alle bei Bismarcks "Kleinstaaterei"-Schmähunge von Föderalismus, wir Bayern sind entsetzt und schreien "Preißn!"). Das hat die Deutschen bereits in zwei Weltkriege geritten, aus gutem Grunde ist man daher 1949 wieder zur historischen Normalität des Föderalismus - der "Kleinstaaterei" - zurückgekehrt. Der Zentralismus von Bismarck und später Adolf waren ja nicht die Regel und nach zwei furchtbaren Weltkriegen, an denen Zentralismus und Deutschnationalismus nicht ganz unschuldig waren, tun wir gut daran, die Idee des Zentralismus einfach ein für allemal zu beerdigen.
Nochmal zum Mißverständnis mit dem Volksentscheid zum Grundgesetz; die Bundesrepublik wurde nicht "gegründet", ihr sind die Länder beigetreten. Zuletzt die ostdeutschen Länder 1990. Anders als bei einem Zentralstaat, der wird gegründet und ist dann einfach "puff" da und kann sich dann selbst nach Wahl untergliedern. Das Grundgesetz wurde lediglich "in Kraft gesetzt" und wäre dem Bund kein einziges Land beigetreten, dann gäbe es kein Bundesgebiet, sondern nur ein wirkungsloses Grundgesetz als Kuriosum in Archiven. Da man aber gewohnt ist, von Gründungsdaten zu sprechen, wirst du sozusagen "populärwissenschaftlich" in der Wikipedia ein Gründungsdatum der Bundesrepublik finden. Rein staatsrechtlich ist das aber ziemlich ungenau.
Die Staatsgewalt geht in Deutschland von den Ländern aus, die Landtage der Länder haben das Grundgesetz damals ebenso angenommen, wie die ersten frei gewählten Parlamentarier der DDR, indem sie für den Beitritt zum Bund und somit zum Wirkungskreis des Grundgesetz gestimmt hatten. Darum sprach man von den Neuen Ländern in den 90ern ja auch häufig von den "Beitrittsgebieten". Hätten sie das nicht gemacht, dann wäre es zB bei einem unabhängigen Freistaat Bayern nach dem Krieg geblieben und es hätte nichts gegeben, was die damalige Bundesrepublik dagegen hätte tun können, ebenso wenig, wie man zB Sachsen einseitig zu einem Beitritt zur BRD hätte zwingen können, wenn die politischen Mehrheiten in Volkskammer und im neu gegründeten Freistaat Sachsen ganz anders gelegen wären und es eine Volksbewegung für eine freies Sachsen gegeben hätte. Da hätte der Bundestag noch so oft für den Beitritt Sachsens zum Bundesgebiet stimmen können, das hat einseitig keinerlei Bindungskraft, erst wenn sowohl Land X für einen Beitritt stimmt und dann der Bund sozusagen das Beitrittsgesuch per Bundestagsbeschluss akzeptiert, erst dann wird ein Land Teil des Bundesgebietes. Das unterscheidet sich deutlich von einem Zentralstaat, der einfach einseitig erklärt, welches Territorium zu ihm gehört und "puff" so ist es völkerrechtlich dann einfach auch, wenn es keinen Bürgerkrieg gibt und andere Staaten diesen Gebietsanspruch anerkennen.
Umgekehrt wurden die Verfassungen der Länder aber in Volksabstimmungen angenommen, in Bayern stimmten zB 70,6 % der Wähler, bei einer Wahlbeteiligung von 75,7 %, für die Annahme der Bayerischen Verfassung 1946. Damit war der Freistaat Bayern gegründet (
https://de.wikipedia.org/wiki/Verfassun ... tes_Bayern). Der daraufhin gewählte Landtag trat dann dem Bund per Mehrheitsbeschluss drei Jahre später bei (in der Zwischenzeit war der Freistaat Bayern ein eigenständiger Staat, wenn man einmal von den Besatzungsmächten absieht). Rein völker- und staatsrechtlich könnte Bayern auch ebenso per einseitigem Mehrheitsbeschluss jederzeit wieder austreten (rechtlich nichts besonderes, nur politisch wäre das - derzeit - undenkbar) und wäre dann wieder ein eigenständiger Staat, wie zwischen dessen Gründung (der Freistaat Bayern wurde tatsächlich nach klassischer Staatstheorie "gegründet") 1946 und Beitritt zum Bund 1949. Ebenso wie die EU Mitgliedschaft der Bundesrepublik nicht per Volksentscheid abgenommen wurde, die BRD kann umgekehrt die EU auch jederzeitig einseitig verlassen. Das reicht dem Staatsrechtler um darüber hinwegzusehen, dass es darüber dann jeweils keine eigene Volksentscheide gab. Die eigentliche Landesverfassung wurde ja per Entscheid angenommen und das reicht zur demokratische Legitimation des darauf basierenden Staates und aller seiner Handlungen inklusive wirksamen Beitritten zu größeren Gebilden, sei es BRD oder EU.