So scheußlich das in jedem vorkommenden Fall aus PR-Sicht ist und bleibt, so selten ist es selbst im gebeutelten DB-Fernverkehr des Jahres 2010 bezogen auf die Gesamtzahl der Zugfahrten. Und das allein darf als Relation der Maßstab sein, ob ein Ereignis nur - weil "bad news" - besonders medientauglich oder tatsächlich ein tragisches Unglück ist. Wie im konkret geschilderten Fall übrigens ausgerechnet die Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main der Dame helfen können soll, muß ich auch nicht verstehen. Soll die VGF zukünftig auch Fernverkehr anbieten, nachdem sie sich schon bei VIAS zugunsten der DSB zurückziehen durfte mußte ?
Ohne Frage sollte DB Fernverkehr hart und kontinuierlich auf allen Ebenen daran arbeiten, die bestehenden Probleme zu lösen. Schlagt mich, aber der Abzug der Baureihe 5411 von der Gäubahn ist in diesem Kontext eine richtige Maßnahme. Weiteres wird sicherlich in verschiedenen Richtungen noch folgen, ob es erfolgreich ist, wird die Zeit beurteilen müssen.
Was aber in solchen Presseartikeln immer außen vorbleibt, und was ich jetzt hier mal tun werde, ist mir Gedanken über meine lieben Mitfahrgäste zu machen.
Von den zitierten ausländischen Reisenden will ich mal gar nicht reden, sonst denke ich nur drüber nach wieviele davon wohl aus Ländern kamen, deren Eisenbahn ein noch größeres Chaos ist als bei uns (Italien) oder deren Eisenbahn keinen vernünftigen landesweiten Fernverkehr anbietet (USA). Wenn das Deutschlandbild nur von solchen - in der Gesamtrelation - Kleinigkeiten bestimmt wird - bitte.
Wie aber ist es mit den lieben Mitfahrgästen / -innen, die keinen Auslandsbonus von mir in Anspruch nehmen können, weil sie dummerweise ihren ersten Wohnsitz in Deutschland haben ? Jeder, der eine deutsche Schulbildung durchlaufen hat oder zumindest dem Papier nach anwesend war, sollte eigentlich dabei irgendwann mal von den Grundlagen des Rechts gehört haben
(und erwartet jetzt bitte bei der Aussage "ich bin aber in NRW* zur Schule gegangen" bloß kein Mitleid von mir), Bürgerliches Gesetzbuch und so Zeug. Ja, ist megauncool, Alder, Sprache voll krass - weiß ich. Ändert aber nichts an den Tatsachen. Ich meine jetzt auch nicht, daß man sich, wenn einem der Zug zu voll vorkommt, von seiner Angetrauten scheiden lassen soll, sondern vielleicht mal einen Blick ins Vertragsrecht werfen könnte. Nur mal so für den eigenen Hinterkopf, um sich die Basis alltäglicher Handlungen wieder klar zu machen.
Was tue ich, wenn ich eine Fahrkarte erwerbe, völlig unabhängig davon, was für eine Fahrkarte das ist ? Richtig: Ich schließe mit dem mir die Fahrkarte verkaufenden EVU auf der Basis zweier übereinstimmender Willenserklärungen einen Vertrag ab, mich für Betrag X vom Ausgangs- zum Zielbahnhof zu fahren. Dieser Vertrag verpflichtet mich zur Zahlung des übereinstimmend festgelegten Betrages X, das EVU verpflichtet sich dieser Vertrag, die Beförderungsleistung zu erbringen. Beide Verpflichtungen gelten insoweit als daß diese nicht infolge höherer, vom Vertragspartner nicht zu verantwortender oder beeinflussender, Gewalt erschwert bzw. unmöglich gemacht werden. Um einem vorhersehbaren Einwand zu begegnen, dieser Vertrag beinhaltet nur die Beförderungsleistung "mittlerer Art und Güte", quasi sortentypisch, aber nicht spezifisch, es sei denn, dies wäre gesondert vereinbart. Ich erwerbe also als Vertragspartner des EVU üblicherweise das Recht, mit einem Zug auf der vereinbarten Strecke zu reisen, aber nicht mit einem
bestimmten Zug. So wie ich im Supermarkt auch mit dem Kaufvertrag eine Flasche Milch erwerbe, aber nicht notwendigerweise das Recht, genau die zu bekommen, die unter den anderen 20 im Kühlregal genau vorne links steht. Weiter werden - es sei denn, es wäre zwischen den Vertragspartnern ausdrücklich anders vereinbart - die AGB ("Beförderungsbedingungen") des EVU Vertragsbestandteil. Auf diesen Umstand werde ich mit meinen Vertragsunterlagen - der Fahrkarte - auch schriftlich hingewiesen. Gegen diese Tatsache kann ich mich nur wehren, in dem ich die Geltung dieser Regeln mit dem EVU vertraglich ausschließe und andere vereinbare - das wird nur kein EVU mitmachen. Ansonsten werden diese Regelungen, denen ich ja mit Abschluß des Vertrages zugestimmt habe, Vertragsbestandteil. Sie sind nur dann rechtlich anfechtbar, wenn sie im Sinne des AGB-Gesetzes einen (oder auch beide) Vertragspartner unangemessen benachteiligen.
So. Nachdem das geklärt ist, gehen wir zu der Frage über, was da eigentlich in den von mir als Vertragspartner ja akzeptierten Vertragsbestandteilen drinsteht. Typischerweise auf jeden Fall eine Formulierung von der Sorte, daß den Anweisungen des Personales zur eigenen Sicherheit Folge geleistet werden sollte. Und das ist des Pudels Kern. Ist vielleicht für manchen schwer zu akzeptieren, aber das Zugpersonal der EVU wird in der Regel kaum Reisende auffordern den Zug zu verlassen, weil sie machtgeile Terroristen sind und es ihr liebster Spaß ist, arglose Großmütter und hilflose Geschäftsreisende (!) zu drangsalieren und möglichst nachhaltig zu quälen. Gegenbeispiele mögen negativerweise vorgekommen sein, aber in > 99,9% der Fälle gehen diese Leute mit einem Ihrer Aufgabe angemessenen Verantwortungsbewußtsein zu Werke. Und gerade in Sicherheitsfragen muß hier die Meßlatte notwendigerweise hoch liegen, denn Sicherheit kennt kein "zweites Mal". Die grundlegende Notwendigkeit für Obergrenzen für die Besetzung eines Zuges mit Reisenden wird wohl kaum jemand in Zweifel ziehen wollen. Der Zugführer eines über das zulässige (vom EBA**) festgelegte Maß hinaus überfüllten Zuges kann zwar in Gedanken über seinen Arbeitgeber fluchen, der ihn in eine solche Situation bringt, wenn er keine anderen Mittel der kurzfristigen Abhilfe hat (Zusatzfahrzeug frei verfügbar), bleibt ihm nur noch die Wahl zwischen Zug stehen lassen und Besetzung wieder auf ein mit den Regeln vereinbares Maß reduzieren. Ersteres ist in der komplexen Welt eines vernetzten Bahnbetriebes mit weitgreifenden Abhängigkeiten (Folgeleistungen des Zuges) sicherlich keine unbedingt geeignete Idee, vor allem weil dann erstmal alle Reisenden nicht weiter kommen. Also bleibt letzteres als einzige legale Option.
Und das ist jetzt wieder der Punkt, wo ich über meine lieben Mitbahnreisenden nachdenklich werde. Was für ein Volk sind wir eigentlich geworden, daß wir in der Masse nur noch selten individuell sinnvolle Entscheidungen treffen können ? Der Zugführer von oben wird in solcher Situation ja wohl kaum zu seinen Fahrgästen sagen: "Kniet nieder, ihr Bauern - und gehorchet meinen großartigen Befehlen !" - sondern er wird versuchen, die Situation sachlich zu erklären und darum bitten, daß eine gewisse Anzahl Fahrgäste den Zug bitte verlassen möge. Und da kommt jetzt der gemeine deutsche Durchschnittsegoist heraus, der sich sagt: Warum ich ? Soll doch der da links neben und die da hinter mir ... ! Schließlich weiß man ja aus den Medien daß "die bei der Bahn" sowieso "immer alle" nix können, also wird es mir armen Individuum sicherlich noch 15 Jahre mit den nächsten 41728 Zügen in meine Richtung - und nur die zählt ! - ganz bestimmt aber so was von sicher genauso ergehen.
Und darum ist die nicht erfreuliche, aber notwendige Bitte unseres armen Zugführers von oben eben nicht der Beginn der Problemlösung, sondern eher der Beginn eines "Mikado"-artigen Zustandes: Wer sich zuerst bewegt, hat aus Sicht der breiten Masse nicht Intelligenz und Verantwortungsbewußtsein, ja auch Rücksichtnahme auf seine Mitmenschen bewiesen, sondern verloren. "Selber schuld, wenn man so dumm ist !" rufen einige dieser dynamischen Egoisten vermutlich gedanklich hinterher, ohne die Abgründe ihres eigenen Daseins zu erfassen. Da der Zugführer in dieser Situation nicht die Zeit hat, um es geduldig auszusitzen, bleibt ihm selten etwas anderes übrig, als im laufenden "Mikado" der Spielverderber zu sein und nach der 14. vergeblichen Ansage und Bitte sich zur Erfüllung seiner unangenehmen Pflichtaufgabe Helfer zu suchen. Bevorzugt solche, bei denen auch die großen Egoisten in aller Regel zurückhaltender mit all jenen groben und großen Tönen sind, die sie dem Zugführer, der ja immerhin auch für Menschen Verantwortung tragen muß, die ihn verachten und beleidigen, ohne zu Zögern an den Kopf geworfen haben. Die Uniform eines Bundespolizisten gebietet heutzutage scheinbar mehr Respekt als die UBK eines Eisenbahners. Es soll sich bitte keiner beklagen, den die Bundespolizei erst auf die Sicherheitsproblematik aufmerksam machen muß und deshalb hinausbegleitet, denn er hätte ja bereits vor dem Eintreffen der Ordnungshüter einfach darauf vertrauen können, daß der - nochmal - arme Zugführer vielleicht kein so vollständiger Idiot und verdorbener Quälgeist ist, wie er eigentlich denkt und beim Formulieren seiner oben erwähnten Bitte durchaus einen ernsten Hintergrund hatte.
Natürlich wird es immer wieder Einzelfälle geben, in denen es ungünstig ist, wenn eine solche Situation auftritt. Dringende Termine, die letzte Verbindung des Tages, die Familie die wartet - alles ärgerlich, ohne Frage. Doch ich behaupte jetzt dreist, daß 85-90% derjenigen, die ich oben als uneinsichtige Egoisten charakterisiert habe, ohne größere Verluste auch mit einem oder zwei Zügen später oder auf einem anderen Weg ihr Ziel erreichen könnte. Eine Verspätung aus einem solchen Grund heraus ist im übrigen von den gesetzlichen Fahrgastrechten abgedeckt, also sind Ansprüche wie die Teilerstattung des Fahrpreises bzw. die Weiterbeförderung / Hotelübernachtung im Falle des Ausstiegs aus dem überfüllten Zug auch abgedeckt. Bevor ich im überfüllten Zug erstmal eine Viertelstunde auf den Bundespolizisten warte, der mir den Ausgang zeigen muß, bin ich doch schon draußen und suche mir die nächste Alternative ? Zumal die im Artikel zitierten Beispiele doch irgendwie alle auf größeren Knotenbahnhöfen stattgefunden haben, wo also solche Alternativen auch im Bereich des Möglichen liegen.
Zum Schluß meiner Überlegungen möchte ich noch angemerkt haben, daß ich mich selbst und meine Handlungen auch nicht immer als fehlerfrei bewerten kann und darf. Andere Menschen mögen da aus ihrer Sicht heraus auch noch eine ganz eigene Meinung haben. Doch ist das Festhalten an einer narzistischen Trotzköpfchenphase auch kein Pfad der Tugend.
*) = Wer sich an NRW stört, darf gerne das Bundesland seiner Wahl bzw. nach "Pisa" - Ergebnis einsetzen. Es war nur ein zufällig gewähltes Beispiel und stellt keine Wertung dieses Landes und seiner Bewohner dar.
**) = Die sind Aufsichtsbehörde, die dürfen sowas.