Tag 17 Batumi → Kars
Heute wartet die anspruchsvollste Etappe der Reise auf mich. Daher muss ich etwas früher raus. Morgenstimmung über den Dächern von Batumi
Gegen 8 Uhr gehe ich durch die noch ruhige Stadt zur Haltestelle, von der die Buslinie 16 und Marschrutkas Richtung Sarpi Grenze abfahren. Laut Yandex sollten die Busse alle 16 Minuten kommen und ich muss auch fast so lange warten, bis einer kommt. Noch ist er recht leer, nur ein paar Rentner sind unterwegs. Allmählich steigen mehr und mehr Männer, viele mit müdem Gesicht, zu, die aussehen, als wären sie auf dem Weg zur Arbeit. Von allen Seiten hört man Raucherhusten. Nach welchem Prinzip der Bus anhält oder Haltestellen durchfährt, erschließt sich mir nicht. Möglicherweise hält er in der Stadt immer, außerhalb dagegen nur auf Wunsch – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Jemand schreit „Gaacheret!“ und der Busfahrer hält dann einfach an. Etwas schneller als erwartet nähern wir uns schon der Grenze, vor der sich ein langer LKW-Stau gebildet hat, also geht es über die Gegenfahrbahn bis zum Grenzposten weiter. Ein erheblicher Anteil der Fahrgäste ist bis hierhin dringeblieben. Die Fahrt hat nur 42 statt der in der App angezeigten 52 Minuten gedauert, was immerhin einem Schnitt von 27 km/h entspricht.
Ich nehme den Eingang für Fußgänger, vor den Schaltern für die Passkontrolle warten jeweils ein paar Menschen. Ich stelle mich an und bin froh, dass ich nicht zwei Minuten später gekommen bin, denn da kommt eine lärmende türkische Reisegruppe herein. Die Reiseleiterin plärrt irgendetwas und will sich zusammen mit einem Reiseteilnehmer einfach vor mir in die Schlange drängeln. Ich schiebe meinen Koffer so weiter, dass sie sich wegen der Absperrzäune nicht an mir vorbeiquetschen können. Das geht etwa zwei Minuten so, dann sehen sie wohl ein, dass sie nicht vorbeikommen und die Reiseleiterin bedeutet mir, vorzugehen, als wäre
sie so großzügig, mich vorzulassen. Jetzt beginnt ein anderer Kulturkreis…
Gute fünf Minuten später ist die Ausreise erledigt, durch ein paar Gänge geht es über Rollsteige zur türkischen Einreise. Das dauert etwas länger, doch nach 15 Minuten ist auch das geschafft, Bemerkungen oder Nachfragen zu meinem armenischen Stempel gibt es zum Glück keine, auch bei der Durchleuchtung des Gepäcks gibt es keine Beanstandungen. Ich bekomme einen Auto-Stempel in den Pass, anscheinend gibt es keinen Fußgänger-Stempel… Nach rund einer halben Stunde verlasse ich den Grenzposten auf der türkischen Seite, in die andere Richtung ist die Schlange bereits deutlich länger.

Willkommen in der Türkei, links im Hintergrund die georgische Flagge – zusammen mit der EU-Flagge…
Erstmal wimmle ich die Taxifahrer ab, die sich sogleich aufdrängen, denn von hier gibt es regelmäßig Dolmuş (die türkische Variante der Marschrutka) in die nächste größere Stadt Hopa, von wo aus ich bereits vorab online eine Busfahrkarte nach Kars gekauft habe.
Der wohl wichtigste Tipp, den ich im Internet gefunden habe, war definitiv der, bereits in Batumi Lari in türkische Lira zu tauschen, denn ich entdecke hier keinen Geldautomaten, nur eine Moschee. Ein paar Kleinbusse stehen am Straßenrand, ich werde direkt zum richtigen geführt, als ich nur Hopa sage und setze mich rein. Bald kommen noch weitere Fahrgäste dazu, die Koffer kommen einfach in den Gang in der Mitte und keine zehn Minuten später geht es auch schon los. Durch die Zeitverschiebung habe ich noch anderthalb Stunden bis zur Busabfahrt und bin damit schneller als ich zunächst angenommen habe. Der Busbahnhof von Hopa befindet sich etwas außerhalb des Stadtzentrums und als ein anderer Fahrgast in der Nähe des Stadtkerns aussteigt und ohnehin alle Koffer aus dem Gang geräumt werden müssen, steige ich auch gleich aus. Vielleicht bekomme ich ja gleich hier eine SIM-Karte.
Es ist kurz nach neun und die Stadt erwacht langsam. Die Herren sitzen beim Tee.
Ich komme an einem Turkcell-Geschäft vorbei. Drinnen sitzen fünf Leute bei Tee und Gebäck. Ich störe ja nur ungern, aber…
Can I buy a SIM-card here? „SIM-card, yes!“ Wunderbar. Es wird noch gerätselt, welches mein Vor- und welches mein Nachname ist und welches Land Deutschland ist. Sie können außerdem kaum ein Wort Englisch. Aber nach ein paar Minuten legt die junge Frau eine SIM-Karte in mein Handy ein und gibt als besonderen Service gleich den PIN ein – allerdings bei meinem Dual-SIM-Handy bei der deutschen Karte und ich kann sie gerade noch stoppen, dreimal hintereinander die falsche einzugeben. Dann funktioniert aber alles und für recht happige 29€ habe ich 20 GB zur Verfügung. Dann gehe ich weiter Richtung Busbahnhof und komme an einem Geldautomaten vorbei, zum Glück einer ohne Gebühren und ich nutze die Gelegenheit sogleich, denn ich habe bereits fast alle meine Lira schon wieder ausgegeben.
Wenig später bin ich am Busbahnhof und werde auch sofort angesprochen. Auf meine verständnislosen Blicke hin wird der Text etwas vereinfacht. „Ankara, Erzurum, Istanbul?“ Kars. „First office.“
Kars? „Yes, ticket?“
Hab ich schon. Nun muss ich noch etwa eine halbe Stunde warten, leider in einem furchtbar verrauchten Warteraum. Hier qualmt echt jeder wie ein Schlot… Ich suche noch das WC auf, der WC-Aufpasser in seinem Kabuff ist gerade beim Frühstück mit einem Stück Käse und einem angebissenen Ei vor sich.
Überpünktlich kommt der Bus eingefahren, mein Koffer wird verladen und da noch alle rauchend draußen stehen, gibt es wohl keine Eile, einzusteigen. Dann verstreicht die Abfahrtszeit und allmählich steigen alle ein. Ich habe den Gangplatz in der zweiten Reihe gebucht, um nach vorne rausschauen zu können und meine Beine zumindest in den Gang ausstrecken zu können. In der ersten Reihe hatte zu meinem Buchungszeitpunkt bereits eine Frau einen Platz gebucht und man darf dann als Mann den Platz daneben nicht buchen. Meine Fahrkarte wird ebenso wenig kontrolliert wie mein Pass, dessen Nummer man auch angeben musste. Der Mann auf dem Fensterplatz neben mir hat sich so breitbeinig hingesetzt, dass er meinen Sitz zur Hälfte mitbenutzt und macht auch nicht wirklich Anstalten, sich auf seinen Platz zurückzuziehen. Erst nach und nach kann ich mir meinen Platz zumindest soweit erobern, dass ich einigermaßen bequem sitzen kann. Die Sitze sind aber auch wirklich furchtbar eng – weil ich das schon vermutet habe, habe ich mir einen Gangplatz gebucht.
Fünf Minuten nach der Abfahrtszeit werden irgendwelche Listen vom Busbahnhof-Aufseher an den Busfahrer übergeben, irgendetwas gezählt, jemand geht durch den Bus, wieder wird irgendwas auf der Liste überprüft. Zehn Minuten nach der Abfahrtszeit scheint dann alles geklärt und es geht los. Wir sind noch keine 500 Meter vom Busbahnhof gefahren, da winkt bereits jemand am Straßenrand und steigt zu.
Dann verlassen wir Hopa durch eine überraschend grüne Landschaft, die fast aussieht wie in Mitteleuropa und das Klima scheint hier tatsächlich recht ähnlich zu sein – sicher wärmer, aber mit ganzjährigem Niederschlag.
Die Straße wird gerade ausgebaut, es geht durch üble Schlaglöcher durch die Baustelle, dann auf eine Schnellstraße, die fast nur aus Tunnels besteht. Hier wurde viel Geld investiert. Bald wird der Verkehr sehr spärlich und es geht stetig bergauf.
Der Busfahrer kontrolliert während der Fahrt sehr intensiv die Liste. Soweit ich es erkennen kann, steht auf ihr, von wo bis wo welcher Sitzplatz belegt ist und darunter noch eine handschriftliche Rechnung. Trotzdem frage ich mich, was es auf dieser Liste gibt, das man minutenlang während der Fahrt analysieren muss. Zum Schalten klemmt der Fahrer den Zettel zwischen die linke Hand und das Lenkrad. Aber hey, es kommt ohnehin fast nie Gegenverkehr, da muss man ja nicht so akkurat in der Spur bleiben. Es wirkt auf mich so, als würde er nicht zum ersten Mal so fahren. Dann klingelt auch noch sein Handy, die Liste muss kurz weggelegt werden, wichtige Gespräche gehen vor. Also hält er mit der linken Hand das Handy am Ohr, mit der rechten das Lenkrad. Der Motor röhrt, aber dummerweise ist halt gerade keine Hand zum Schalten frei. Also flott mit dem linken Ellenbogen irgendwie das Lenkrad „festhalten“, schnell mit rechts schalten, geht doch…
Die Vegetation wird spärlicher, als es immer weiter bergauf geht. Nach gut einer Stunde gibt es dann eine Pause am Busbahnhof Artvin, ich höre etwas von „on minut“, gut, dass ich die Zahlen auf Türkisch gelernt habe.

Zum Taktknoten um zwölf fahren Busse in alle Richtungen, einer bis nach Bursa, einer Stadt im Westen der Türkei, ein Albtraum von fast 24 Stunden Busfahrt…
Kurz nach zwölf geht es dann weiter, wieder kontrolliert der Busfahrer etwas auf seiner Liste und zählt dann noch Geld. Herrje, wir fahren ja bloß eine Passstraße hoch, da muss man sich natürlich während dem Fahren noch anderweitig beschäftigen…

Auf sehr kurvige Abschnitte, auf denen abgestürzte Felsblöcke die Straße teilweise blockieren, folgen wieder lange Abschnitte in Tunnels. Die Straße führt entlang eines türkisblauen Stausees, der sich kontrastreich von den inzwischen fast unbewachsenen, leicht rötlichen Felsen abhebt. Wieder eine Stunde später wird an einer Raststätte Halt gemacht, ich schnappe „20 Minuten“ auf und nutze die Gelegenheit zum Mittagessen. „Chicken, meat?“, fragt der Mann hinter der Theke (Anm.: in vielen Ländern wird meat äquivalent zu Rindfleisch gebraucht, im Gegensatz zu chicken). Ich nehme den Hähncheneintopf, dazu gibt es Brot, das in großen Tupper-Dosen auf jedem Tisch zur freien Verfügung steht. Nachdem ich mich gestärkt habe, bleibt noch Zeit für ein paar Bilder.
Ein anderer Fahrgast spricht mich an, bzw. bedeutet mir mit Gesten, ich solle doch ein Foto von ihm machen.
Dann scheint er das Bild haben zu wollen, tippt seine Handynummer ein, damit ich es ihm später auf Whatsapp schicken kann.
Er fragt etwas auf Türkisch, dann auf Englisch: „Where are you from?“
Switzerland. Er schaut mich ratlos an. Mist, wie sagt man nochmal Schweiz auf Türkisch? Ich probiere etwas, scheine es aber falsch in Erinnerung zu haben, also ziehe ich meine Liste mit den Redewendungen hervor, die ich mir vor der Reise auf Russisch und Türkisch zusammengestellt habe und auf der unter Anderem „Ich wohne in der Schweiz“ steht. Er lächelt und meint: „Ohhh!“
Der Busfahrer schaltet den Motor ein, was wohl bedeutet, dass es gleich weitergeht. Es wird immer wärmer, obwohl wir schon weit hochgefahren sind.
Die Straße ist gut ausgebaut, wieder reihen sich Tunnels aneinander und es gilt Tempolimit 50, an das sich freilich niemand hält und irgendwie ist es auch total unlogisch. Wenn es nicht zu steil hochgeht, erreicht der Bus 80 bis 90 und wenn ganz selten doch mal ein Auto kommt, überholt es uns noch deutlich schneller. Da die Tunnels größtenteils schnurgerade sind, ist das sogar ungefährlich möglich.
Der Busfahrer zündet sich eine Zigarette an. Die Landschaft hat sich wieder verändert, auf dem Talboden sind grüne Oasen inmitten der völlig kargen Berghänge und einige Schafe und Kühe verspeisen das spärliche Gras.
Es geht immer höher die Berge hinauf, ständig klingelt das Handy des Busfahrers. Immer wieder telefoniert er und raucht noch drei Zigaretten nebenbei. Zweimal steigt jemand an einer Kreuzung im Niemandsland aus. Schließlich setzt Nieselregen ein. Die Landschaft wird wieder etwas grüner und wir erreichen ein abgelegenes Dorf, der Bus wird herangewunken. Alle Plätze sind belegt, die Zusteiger müssen stehen. Keine 500 Meter weiter winkt schon wieder jemand, der Busfahrer wirft die Arme in die Luft. Auch für das Gepäck gibt es keinen Platz mehr, der Koffer wird einfach in den Gang gestellt und die Frau setzt sich auf die Treppe neben dem Busfahrer. Wenigstens klingelt sein Handy nicht mehr ständig… Die hohe Nachfrage ist wohl auf das Ende des Zuckerfestes zum Fastenbrechen nach Ramadan zurückzuführen.
Die Landschaft ähnelt jetzt den Alpen. Es gibt Nadelbäume und auf den Gipfeln liegt Schnee.
Nur ganz kurz machen wir eine Raucherpause, in der Nähe gibt es einen Skilift und ein paar letzte Schneereste.
Der Platz neben mir wird frei und der Fahrgast, der mich um ein Foto gebeten hat, setzt sich zu mir. Über Google Übersetzer fragt er mich erst, wie alt ich bin, dann meine Zweit-Lieblingsfrage direkt nach
What´s your salary – „Are you married?“ Dann zeigt er mir irgendwelche Werbefilmchen über Italien – Sizilien, Comer See, Pisa. Es ist klar erkennbar, dass er das viel schöner findet als die Türkei, deutet nach draußen und macht eine wegwerfende Handbewegung.
Dann googelt er nach Schweizer Frauen und auch hier ist klar, dass er die viel schöner findet als die, die draußen beim Rauchen stehen. Er spielt mir noch türkische Musik vor und ich würde ihm auch gern noch mehr von der Schweiz zeigen, doch inzwischen haben wir die Fahrt fortgesetzt und ich muss mich sehr zurückhalten, auf Passstraßen am Handy herumzusuchen, weil mir sonst ziemlich schnell schlecht wird.
Dann kommen wir in eine Straßensperre. Soldaten stoppen den Bus, einer steigt ein. Die anderen Fahrgäste zeigen ihre Ausweise vor und sagen irgendwelche Zahlen, ich reiche einfach meinen Pass, welcher mit einer gewissen Verwunderung entgegengenommen wird. „No problem“, meint mein Sitznachbar nur und spielt weiter türkische Musik vor. Zwei Fahrgäste sind wieder zum Rauchen ausgestiegen, der Soldat gibt meinen Pass an einen anderen weiter, der fotografiert ihn und blättert ihn durch, dann bekomme ich ihn wieder zurück.
Dann geht es weiter, zuletzt über eine gut ausgebaute Straße mit 100.
Zu meiner Überraschung nähern wir uns bald im Nieselregen Kars, die Landschaft sieht jetzt wieder fast wie in Jerewan aus. Kurz vor fünf erreichen wir den Busbahnhof von Kars, wobei Busbahnhof eigentlich das falsche Wort ist – betonierte Fläche vor ein paar baufälligen Gebäuden trifft es eher. Die komplizierteste Etappe ist gelaufen wie am Schnürchen, so kann es bleiben.
Im Nieselregen kämpfe ich mich mit meinem Koffer über die holprigen Gehwege, deren Zustand katastrophal ist und da die Dachrinnen das Wasser direkt auf den Gehweg leiten, steht alles unter Wasser und von oben tropft noch mehr herunter. Zum ersten Mal seit den Treppen von Tbilisi habe ich Mühe mit meinem Koffer.
Braucht jemand eine Waschmaschine oder einen Kühlschrank?
Bunte Wimpel werben für die verschiedenen Parteien der anstehenden Präsidentenwahl
Von Beginn an fällt mir auch dieser typische Geruch von schlechter Luft auf, möglicherweise verursacht durch alte Heizungen. Nicht nur der Zustand der Straßen und Gehwege ist vielerorts schlecht, auch die Bausubstanz sieht wenig vertrauenserweckend aus – irgendwie wundert es mich nicht, dass beim Erdbeben im Februar 2023 zahlreiche Gebäude in der Südtürkei wie Kartenhäuser eingestürzt sind.
Ich habe über Airbnb ein WG-Zimmer gebucht, die Übernachtung kostet hier für zwei Personen nur 12€. Der Vermieter erwartet mich bereits und die Einladung zum Tee nehme ich natürlich gern an. Ich bin etwas müde von der langen Fahrt und spüre seit zwei Tagen eine leichte Erkältung. Der Vermieter ist selbst erst vor Kurzem wieder von seiner Familie in einem nahegelegenen Dorf wiedergekommen, wo er das Zuckerfest gefeiert hat. Es wäre ein recht trauriges Fest gewesen, ergänzt er sogleich, denn ein Cousin sei von einem Baugerüst in Bosnien in den Tod gestürzt und ein Onkel kürzlich an Krebs gestorben. Ich bin immer wieder über Tabus und vor allem nicht vorhandene Tabus in anderen Kulturkreisen erstaunt – ich jedenfalls würde nicht direkt über den Tod von Familienmitgliedern sprechen, wenn ein Fremder bei mir ein Zimmer gebucht hätte. Wir sprechen über meine Reise. Oh, Jerewan, wie wäre es denn dort so? Ich bin wieder ziemlich überrascht, denn er möchte gern mal nach Armenien reisen, erklärt auf Nachfrage, die Einreise wäre über Georgien kein Problem. „It´s a political problem, not our problem.“ Jetzt breche ich eines meiner für Reisen auferlegten Tabus über heikle politische Themen und frage nach, ob es denn in Kars noch Relikte der armenischen Zeit gäbe (die Region war bis zum Völkermord an den Armeniern im 1. Weltkrieg Teil Armeniens). Er gibt eine etwas ausweichende Antwort, meint, zur Zeit des Osmanischen Reichs hätten hier viele Armenier gewohnt, „but then most of them left.“ So kann man das natürlich auch formulieren… Er erwähnt noch, dass er Kurde ist, ob ich wüsste, was das ist? Er schwärmt von Diyarbakır, Gaziantep und Antakya, das Essen wäre dort so lecker und die Städte so reich an Kultur, leider wäre fast alles durch das Erdbeben zerstört worden. Auch ohne Erdbeben würde ich dort allerdings aktuell nicht hinfahren, denn es gibt eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts für die Region und ein mir bekannter Abenteuer-Reisender hat die Region vor wenigen Jahren besucht und von nächtlichen Schusswechseln in Diyarbakır berichtet… Mein Vermieter arbeitet als Schulpsychologe, leider hätte er morgen Nachtschicht, sonst hätte er mir gern die Stadt gezeigt. Viele Kinder im Alter zwischen 12 und 14 übernachten in der Schule und fahren nur am Wochenende heim, wenn sie aus den weiter entfernten umliegenden Dörfern stammen. Er kümmert sich dann um sie.
Durch den Tee gestärkt, breche ich zu einem Abendspaziergang auf. Der Weg zur Burg führt mich zuerst durch eines der typischen Neubau-Viertel…
…und dann weiter durch ärmliche Behausungen. Hier scheint die Armut deutlich größer als in Georgien zu sein, es scheint mir eher vergleichbar mit den Hütten-Siedlungen in Jerewan. Die Straßen sind furchtbar vermüllt und Straßenhunde suchen sich etwas Fressbares. Ich versuche, möglichst unauffällig ein paar Fotos zu machen, ansonsten gehe ich zielstrebig Richtung Burg.
Niemand spricht mich an, obwohl ich mehrmals Passanten begegne.

Der Muezzin ruft, als ich den Hügel emporsteige und sorgt für eine sehr besondere Atmosphäre im Dämmerlicht.
Als die blaue Stunde anbricht, steigen die letzten Personen ab und es ist das erste Mal auf dieser Reise, wo ich meinem Bauchgefühl folgend nicht allein im Dunklen bleiben möchte.
Zwei junge Männer kommen mir auf dem Weg nach unten entgegen, fragen etwas.
Sorry? „Is it closed?“ Das weiß ich leider nicht, denn ich bin nicht bis zum Eingang der Burg gegangen.
Blick zurück zur Burg
Der obligatorische Selfie-Schriftzug
Es beginnt zu regnen, aufgrund des Feiertags haben viele Restaurants geschlossen. Die Empfehlung meines Vermieters ist zwar offen, aber es hat sich bereits eine Schlange vor dem Eingang gebildet. Ich gehe weiter, hier in der Innenstadt über gute Fußwege, allerdings tropft überall Wasser von den Dächern herab.
Schließlich lande ich in einem Lacmacun-Imbiss, der auf Google sehr gut bewertet ist und nichts anderes anbietet außer Lahmacun.
Das Telefon klingelt pausenlos, Tüten mit Essen werden ausgeliefert. Wenn der Laden so beliebt ist, kann er wohl nicht schlecht sein… Ich wundere mich sehr über die Preise, ein Lahmacun ist zu wenig, um satt zu werden und ich bestelle noch einen zweiten, auch die meisten anderen Gäste haben zwei pro Person bestellt. Am Ende zahle ich weniger als 2€ für die beiden Lahmacun und eine Flasche Wasser, es wird die günstigste Mahlzeit der Reise bleiben.
Im Regen stapfe ich zurück, gehe unterwegs noch in einen Supermarkt. Jemand hat schon etwas auf das Kassenband gelegt, ist dann aber nochmal weg, um etwas anderes zu holen. Die Kassiererin beginnt, die Artikel zu scannen und der Kunde verschwindet nochmal, um etwas zu holen. Ist alles ein bisschen chaotisch hier…
Ich habe nun einen starken Kulturwandel hinter mir, um nicht zu sagen, einen Kulturbruch. Hier ist alles chaotischer, lauter, heterogener, Frauen mit und ohne (v.a. die jüngeren) Kopftuch, ganz wenige mit Vollverschleierung, Skinny Jeans statt weiter Schlabberhosen, mehr Drängelei und generell mehr Körperkontakt. Im Gegensatz zu Georgien, wo noch zahlreiche (nicht mehr gültige) Hinweisschilder auf Corona-Hygieneregeln hingen, sieht man das in der Türkei nicht. Ein sehr offensichtlicher Unterschied zu Georgien sind die hier, abgesehen von meinem Vermieter, quasi überhaupt nicht vorhandenen Englischkenntnisse. Der einzige Grund, dass es kein Kulturschock ist, dürfte daran liegen, dass mein letzter Stop in Batumi bereits sehr international war.
Ich bekomme zwei Fake-Mails von der DKB und bin schon gespannt, ob ich bald wieder für einen Mietwagen in Florida bezahlen darf, wie während meines Aufenthalts in Indien.